Krise als Chance – Entwicklungen zur Psychiatrie-Selbsthilfe in Griechenland

Im November 2012 berichtete Anna Emmanouelidou, Diplom-Psychologin aus Griechenland, auf der Tagung „endlich selbstverständlich … – Resi1 reist zum Regenbogen“ in Darmstadt über die Verhältnisse in ihrem Heimatland. Ihr Vortrag „Von NULL wieder anfangen – immer wie das erste Mal: Überlegungen und Einladungen über das Soziale, das Politische und das (Zwischen-) Menschliche“ mit dem Untertitel: „Radikalisierung der Krise als Zeichen menschlicher Pracht“ begann mit einer Videopräsentation: ein Werbefilm mit den Schönheiten des Landes, die Olympiade 2004, dann Athen 2012: Arme Menschen auf der Straße und blutige Bilder einer Demonstration, mit klassischer Musik.

Anna Emmanouelidou erzählte, Griechenland mache seit zwei Jahren eine tiefe „Vernichtungserfahrung“. Sie gehe von Freunden aus. Auf diesen „Verrat“ folge

  1. Überraschung,

  2. bitterer Schock,

  3. der Gedanke: Das darf doch nicht wahr sein,

  4. Schweigen und

  5. Explosion. Eine solche verlaufe so: 1. Es komme eine nicht zu ertragende Kraft zum Ausbruch, 2. mensch habe keine Angst mehr und versuche nichts zu retten und 3. Es entstehe Platz für Neues.

Über 50 % der außerstationären psychiatrischen Versorgungsangebote seien in den letzten zwei Jahren geschlossen worden, die restlichen würden allmählich ausgeblutet. Die großen Krankenhäuser sollen die Versorgung wieder übernehmen. Es gebe immer mehr Arbeitslose, weniger Gesundheitsdienste, mehr Arme auf den Straßen. Andererseits gebe es mehr Selbsthilfeorganisationen in jedem Bereich wie Essen, Ausbildung, Gesundheit. (Nachtrag Juli 2013) Dies finde in Zentren statt, die zum Teil illegale Besetzungen seien. Die Referentin ist optimistisch. Die Menschen lebten nun sehr stark miteinander. Es sei viel Erleichterung spürbar, dass jetzt etwas gegen die Regierung getan werde.

Krise

Das Wort „Krise“ (griech.) bedeute nach Anna Emmanouelidou ´Auswertung´. Sie lud uns ein, uns von der Idee des Lebens als immer-nur-geradeaus zu verabschieden. In der griechischen Mythologie gebe es zwei Figuren, die es vormachen: Herakles und Phönix. Herakles ist der Held, der alles möglich machte. Er wurde vom Hemd seiner Gattin eingeengt. Das Gift im Hemd ging in sein Fleisch über. Er hat sich in ein von ihm angezündetes Feuer „gerettet“, indem er sich selbst verbrannte. Er starb nicht, sondern wurde unsterblich und in den Olymp der Götter aufgenommen. Weiterhin gab es den Vogel Phönix, der ein Nest baute, sich hineinsetzte und verbrannte, um dann aus der Asche neu zu erstehen. Sie betonte, dass das Feuer aus dem Vogel selbst heraus kam.

Wie in der Sage findet Anna Emmanouelidou es wichtig, (schwere) Krisen nicht als Katastrophe zu werten, sondern sie als extreme Aufforderungen zu Änderungen zu sehen. Menschen könnten durchaus schwere Krisen durchstehen, das sei bewiesen. Wenn dieser Gedanke in unserem Konzept vom Menschsein enthalten wäre, dass eine Krise nichts Schlimmes ist, wäre dies hilfreich für viele. Die menschliche Kultur wisse das im Grunde. Nur im modernen Denken werde eine Krise als schlimm definiert und tabuisiert. Es gebe Tausende von Menschen, die schwere Krisen ohne Hilfe überstanden haben, nur wird nicht drüber gesprochen. Mensch müsse Krisen einfach passieren lassen und fürsorglich begleiten, damit diese Menschen zu ihrem Ziel, der Selbstgenesung, fänden.

Hellenistisches Observatorium für Menschenrechte in der Psychiatrie“

Anna erläuterte, dass es Anfänge zu dieser Initiative seit über zehn Jahren gebe. Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen der Einflussnahme eröffneten die Aktiven einen Kultur- und Informationsverein in einem Raum in der Psychiatrie, in den sie oft „verkleidet“ herein kamen. Zugleich fanden sie einen Angehörigen-Verein als Unterstützer. Es wurde Kaffee und Kuchen angeboten, dabei systematisch die Patient_innen über ihre Rechte informiert.

Ab 2005 habe sich eine Gruppe einmal monatlich getroffen und Punkte erarbeitet, was sie wollen. 2006 wurde das „Hellenistische Observatorium …“ gegründet. Es gab immer mehr Aktionen – bis heute. Die Mitwirkenden dienten als Anlaufstelle für Unterstützung bei Klagen. Klagen von solchen, die sich nicht trauten, würden gesammelt und als Sammelklagen an das Ministerium weitergeleitet. Hilfe bei der Gründung von Selbsthilfegruppen werde gegeben. Beratung für Psychiatrie-Testament und Unterstützung beim Absetzen von Psychopharmaka werde angeboten. Die Ausbildung zu Genesungsbegleitern hat im April 2013 mit 17 Personen, darunter auch Nicht-Betroffene, angefangen. Ab September wird eine neue Gruppe in Patras anfangen. (Nachtrag Juli 2013). Es habe sich gezeigt, dass Familien mit telefonischer Beratung zu begleiten, nicht ausreiche. Veranstaltungen werden organisiert, es werden Bücher übersetzt. Das alles läuft ohne Geld, ohne jegliche Finanzierung und komplett in ihrer Freizeit.

Anna wünschte sich abschließend von uns, dass wir helfen, das Bild zur griechischen Situation in den Medien relativieren und Alternativen zu schaffen. „Die Krise des Kapitalismus wird auch hier herkommen.“ Wir müssten Solidarität schaffen.

Heike Oldenburg

 

Anna Emmanouelidou

  1. 1967 geb. in Nordgriechenland

  2. Studium Philosophie, Psychologie, Systemische Psychotherapie, Sozialer Anthropologie, Promotion (Dr. Phil.) in Thessaloniki, Heidelberg, Mannheim

  3. Seit 2001 wieder in Thessaloniki

  4. Mitgründerin verschiedener kritischer Bürgerinitiativen gegen Asylpsychiatrie und Psychiatriegewalt, Produzentin von Radiosendungen in Thessaloniki. Lange in der Psychiatrie tätig (außerstationär: Gewalt gegen Frauen, Sucht, Vernetzung kritischer Profis, Folteropfer, Weiterbildung von Lehrern, Förderung von Selbsthilfe usw.)

  5. Zurzeit Familientherapeutin im Zentrum für Psychische Gesundheit Thessaloniki-Ost

  6. verheiratet, zwei Söhne.

1 Resi = kurz für Resilienz = Widerstandsfähigkeit