„Solche Köpfe bewegen die Wissenschaft.
Sie müssen Psychiater werden.“
C.G. Jung zu Sabina Spielrein
Sabina Nikolayevna Spielreins Leben (1885 – 1942) war ein Kampf gegen die Zerstörung von außen und gegen die selbstzerstörerischen Kräfte. Sie hatte mit fließenden Grenzen zwischen Arzt und Patientin sowie um Gesund- und Normalsein zu ringen. Sie ist eine von zwölf Frauen, die die Psychoanalyse in der Anfangsphase grundlegend mitprägten.
Als älteste von fünf Geschwistern wurde Sabina im November 1885 in Rostow am Don in der Nähe des Schwarzen Meeres geboren. Sie wuchs in großbürgerlich-vermögenden Verhältnissen auf. Ihr Vater war Kaufmann, ihre Mutter Eva M. L. Zahnärztin „aus Vergnügen“. In der bedrückenden Kindheit und Jugend war Sabina physischer Gewalt durch den Vater und wohl andere ausgeliefert. Mit drei bis vier Jahren setzten schwere Darmentleerungsstörungen ein. Sie hielt bis zu zwei Wochen ein. Mit sieben wurde dieses Verhalten durch exzessive Onanie abgelöst. Mit 13 äußerte Sabina beim Essen zwanghafte Ausscheidungsphantasien, von Zwangslachen und Pfui-Rufen begleitet. Sie isolierte sich zunehmend. Dennoch war Sabina extrem wiss- und lernbegierig. Zum Beispiel grub sie Löcher in die Erde, um die Amerikaner zu finden und an den Beinen herauszuziehen. Auch ihre intellektuelle Entwicklung blieb unbeeinträchtigt. Ihr Verhalten wurde jedoch immer auffälliger. Mit 18 hatte sie abwechselnd Wein-, Lach- und Schreikrämpfe.
Im August 1904 wurde Sabina in Burghölzli in Zürich bei C. G. Jung eingeliefert, wo sie die tiefen Brüche und Spaltungen in ihrer Kindheit verkraften konnte. Ihre Tagebucheinträge in dieser Zeit waren quälend voll von Minderwertigkeitskomplexen und dem Bedürfnis nach Liebe. Jung wandte bei Sabina erstmals Freuds Methode an. Nach 3-4-monatiger Behandlung wuchs Vertrauen und nach neun Monaten konnte Sabina bereits entlassen werden. Sie nahm im April 1905 ein Medizinstudium in Zürich auf.
Jung war von Sabina von Anfang an begeistert. Bereits während des Klinikaufenthalts betraute Jung Sabina mit wissenschaftlichen Aufgaben.Eine „tragische Übertragungsliebe1“ von 1906-1909 war die Folge. Sabina (19) wurde Studentin, Geliebte, Patientin und Mitarbeiterin des 28-jährigen Jung. Es fand eine seelische und geistige Verschmelzung statt. Jung jedoch nutzte alle Energien und Wünsche der jungen Frau zu egoistischem Aufstieg und missbrauchte sie auf diese Weise. Sie konnte bei ihm frei assoziieren und unzensiert alle Erinnerungen, Gefühle und Gedanken ausdrücken. Jung verwendete alles von Sabina Zum-Ausgedruck-Bebrachte für seine Assoziationsthematik.
Es gilt als umstritten, ob die beiden sexuellen Kontakt hatten. Die Beziehung zwischen ihnen sei „auf dem Boden tiefen seelischen Verständnisses und gemeinsamer geistiger Interessen“ (Jung an Freud) entstanden und „gleichwertig“. Für Sabina war die Liebesbeziehung exzessiv. Jung – selbst als Schweizer Pfarrerssohn mit 12 Jahren sexuell belästigt, also ebenfalls brutal verletzt in dem Anspruch auf Unversehrtheit – hatte Angst vor einem Skandal. Seine Briefe an Freud über diese „therapeutische Grenzverletzung“ führten dazu, dass Freud die Lehranalyse entwickelte, das heißt, dass jeder Analytiker erst selbst als Analysand Analyse zu durchlaufen habe, bevor er behandeln darf.
Anfang 1909 – Jung war bereits sehr bekannt und sie als Unterärztin in einer Züricher Klinik erfolgreich – wurde ihre Liebe öffentlich. Dies führte zu abruptem Verstoß aus der Therapie. Sabina war in der Folge männlicher Feigheit und der Kumpanei der Männer untereinander ausgesetzt. Jung fand seine Übergriffe gerechtfertigt. Angeblich habe Sabina seine therapeutischen Leistungen nicht ausreichend materiell honoriert. Freud schrieb an Jung: „Kleine Laborexplosionen sind nie zu vermeiden.“ Beeindruckenderweise verarbeitete Sabina diesen Verrat durch beide „Überväter“ produktiv. Sie konnte sich trotz dieser erneuten Verletzungen selbst treu bleiben.
Ende 1910 schloss Sabina ihr Studium wie geplant ab. Wieder ein Liebespaar, wurde sie Jungs erste und einzige Mitarbeiterin. Sabina hat es geschafft, ihren Intellekt gegen die Empfindungen durchzusetzen. Erfolg und Überleben waren gegenüber allem anderen ihr oberstes Ziel: „(W)ie in einem grauen Felsen“ solle in sie „eingeritzt“ sein: „Jetzt gibt es keine Angst mehr, (…) der Schmerz wird nicht mehr empfunden, es wird gegessen, geschlafen, gearbeitet.“ Sabina hatte sich – erfolgreich – auf Funktionieren reduziert.
Sabina promovierte 1911 „Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie (dementia praecox)“. Wie auch ihre zweite große Arbeit, „Die Destruktion als Ursache des Werdens“ 1912, wurde dieses Werk im (von Jung herausgegebenen) Jahrbuch der Psychoanalyse 1911 veröffentlicht. Von Sabina kamen herausragend kreative Impulse für die Psychoanalyse. Sie war auch Mitglied der Mittwochs-Gesellschaft, der ersten, 1902 von Freud mitgegründeten Psychoanalytischen Arbeitsgruppe. Hier ging es um die Diskussion von relevanten, frisch entwickelten Behandlungen und Theorien. (Zu diesem Zeitpunkt hatte Jung bereits eine weitere Ex-Klientin zur Mitarbeiterin und Geliebten auserkoren.)
Schreiben war wie Rettung für Sabina. Dies tat sie in perfektionistischer und unermüdlicher Weise. Möglicherweise hatte das mit dem erlebten Trauma zu tun, mit der unbewussten Überzeugung, dass sie im Grunde schmutzig und wertlos sei und nur durch überragende Leistung ihre Existenz sichern könne. Ihr schmales, wertvolles Werk hatte immer wieder den Zusammenhang von Wiedergeburt und Vernichtung als Thema.
Im Juli 1912 lautete der letzte Tagebuch-Eintrag Sabinas: „Den 14. J. Dr. Paul Scheftel geheiratet.“ Der Heirat in Zürich folgte 1913 die Geburt der ersten Tochter Renata. Die Lebensschwerpunkte wechselten zwischen 1912 und ´23 (Genf, Berlin, Lausanne, Genf). Vermutlich drückte sich eine tiefe Unruhe auch in Sabinas inhaltlich häufig wechselnden Stationen aus: Arbeit in einer chirurgischen Klinik, Musikstudium, Komposition, ab 1919 wieder Psychoanalyse. Bis 1923 entstanden circa 30 Aufsätze. Sabina blieb geistig wendig und produktiv. Immer wieder therapierte sie Kinder, wobei ihr eigenes Lebensthema sexuelle Gewalt tabu blieb. Indem Freuds Phantasie-Dogma bestehen blieb, konnte auch sie den betroffenen Kindern an dieser Stelle kaum zur Seite stehen. Unklar ist, ob sie als Therapeutin bewusst die Verleugnung mitmachte oder ob ihr nur soviel weiterzugeben möglich war, wie ihr selbst durchzuarbeiten möglich gewesen war.
1923 kehrte Sabina nach Moskau zurück. Bereits durch einen Vortrag in Russland 1911 hatte sie als Wegbereiterin der Psychoanalyse in der Sowjetunion gewirkt. 1924 zog sie mit der Familie nach Rostow, wo Eva geboren wurde. Sabina arbeitete später als Analytikerin und Dozentin und baute eine psychotherapeutische Kinderklinik auf. Diese leitete sie bis zum zeitgleichen Verbot der Psychoanalyse 1935. Sabina war für progressive Pädagogik. Tochter „Renatchen“ tauchte oft als Forschungssubjekt in ihren Aufsätzen auf. Beide Töchter studierten später Musik. Über Sabinas Leben als Ehefrau und Mutter ist kaum etwas bekannt. Ihr Mann starb in den 30er Jahren. Im August 1942 wurde Sabina Nikolayevna Spielrein mit ihren beiden Töchtern (28 und 17) in Rostow in der Smijowskaja Balka („Schlangenschlucht“) von Nationalsozialisten erschossen.
Jung hatte 1917 an Freud geschrieben, dass Sabinas Arbeit „enorm komplexbedingt“ sei. Dennoch baute Jung mit Material aus ihren Briefen die Gesamtstrukturierung seines Werkes auf (nach Renate Höfer). Sabina übersetzte Jung ins Russische. Obwohl Sabina Nikolayevna Spielrein für Jung Wegbegleiterin und -bereiterin über 15 Jahre bis zur Beendigung des Briefkontaktes 1919 geblieben war, kommt sie in seiner Autobiographie (1958/59 verfasst) nicht vor. Schon zu Lebzeiten im Westen vergessen, wurde sie in den 70er Jahren wiederentdeckt.
Heike Oldenburg,
1 psychoanalytischer Begriff für die Übertragung von Liebe von einem ursprünglichen auf ein neues Ziel