Kein einziges der großen alten Highlights in Göttingen ist berollbar: weder das Rathaus (von 1270) noch das Aula-Gebäude der Universität (1837 erbaut). Damals gab es noch keine Niedersächsische Regelung zur Zugänglichkeit von Gebäuden. Diese besagt: Bis 99 Sitzplätze ist ein berollbarer Zugang nicht notwendig. Da das Kino Lumière, welches 1986 seinen Betrieb aufnahm, 144 Sitzplätze hatte, wurde von Wilfried Arnold ein längerer Weg mit Betonplatten um das ganze Haus herum angelegt. Sogar ein Baum, der nun eben mal da stand, wurde wild in einer Kurve umlegt! Das war sogar relativ billig, und mensch sieht: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
So kam ich zu dem Luxus der Filmvorführung von „Someone Beside You“ von Edgar Hagen. Es geht darin um Begleitung von Menschen in psychischen Krisen. In einer Art Roadmovie besucht der Psychiater Jakob Litschig mit Betroffenen die schwierigsten Stellen in ihrem Leben. Gleich zu Beginn grenzt sich Jakob in einem Streit gegen Kaspars Verhalten laut und klar ab. Der Grundton für den Film und für den Umgang miteinander ist gesetzt: Achtung, und zwar beidseitig! Kaspar ist ein großer Mann, Jakob eher klein. Es erfordert Mut, einem solchen Menschen, der zudem „Angst, Riesenangst“ hat, deutlich gegenüber zu treten. Edward Podvoll, Begründer des Windhorse-Projektes in den USA in den 1980er Jahren, sagt: „Therapie existiert nicht.“ und fordert Professionelle auf, sich in direkte Nähe zu den Betroffenen zu begeben. (O-Ton: „We will have to go to extremes.“ – „Wir müssen uns auf Extremsituationen einlassen.“)
Obwohl der Film bereits 2006 entstand, sind die Ideen darin nicht neu: Menschen als ganzheitliche Wesen zu sehen und ihnen die Verantwortung für sich selbst nicht abzunehmen. Auch die Sichtweise, diese Zustände als heilbar anzusehen, ist nicht neu. Karen besucht mit dem Filmemacher den Ort ihres Selbsttötungsversuches vor circa 30 Jahren. Sie ist heute reich an Erfahrung, sich im Alltag zu schützen, und sagt klug: „Diese Achtsamkeit wird mich den Rest meines Lebens begleiten, auf mich aufzupassen.“
Die Begleitung von Betroffenen an sich ist oft unspektakulär, aber das Da-Sein im festen Glauben an die innere, oft nur verschüttete Basis der „Weisheit und Liebe als Fundament“ in jedem Menschen ist wichtig. Es gibt noch viel zu wenig Begleitmöglichkeiten dieser Art auf der Welt. Ein wichtiger Film insofern.
Heike Oldenburg
Kino Lumière, Geismar Landstr. 19, 37083 Göttingen, Tel.: 0551-484523, www.lumiere.de
„Someone Beside You“, CH 06, Edgar Hagen, OMU mit deutschen Untertiteln, www.someonebesideyou.com