Selbsttherapie durch Schreiben bei Karl May

Die Selbstbiographie von Karl May wurde 1910 publiziert. 1982 wurde sie mit Fußnoten – diese allein 170 S.! – und Nachwort neu aufgelegt. Das Buch war relativ schwer zu lesen. Zum Großteil fühlte ich mich in dem triefenden Selbstmitleid Mays fast ertränkt. Die Fußnoten waren in ihrer umfassenden Gründlichkeit der Recherche am spannendsten.

Karl May, 1842 geboren, wurde – wie viele Kinder kurz nach der Geburt zu der Zeit – mit dem verseuchten Taufwasser gesegnet. Dies geschah, damit sie, falls sie früh sterben, auf dem Kirchfriedhof begraben werden durften. Karl May war von dieser Frühtaufe an bis zum alter von circa 5 Jahre blind. Als arbeitsame Hebamme hatte die Mutter das Glück, befreundete Ärzte ansprechen zu können, dass diese dem Kind das Augenlicht wiedergeben. Der erblindete Karl May hatte eine Oma, die den Kindern aus vollem Herzen sehr viele Geschichten und Märchen erzählte. Bei der Blindheit muss dies eine außerordentlich wichtige Kindheitserfahrung gewesen sein. Die schwerwiegendere Erfahrung seiner Jugend war sein Vater. Der Weber trieb ihn sehr stark zum Lernen an mit dem Wunsch, dass er einmal etwas Besseres werden solle. In den beiden größeren Pivatbibliotheken im Dorf verschaffte May sich gute Grundlagen für sein späteres Schreiben, u.a. die genauen geographischen Kenntnisse für seine später so berühmten Reiseromane. Ihm fiel auch früh Schundliteratur erotischen Inhalts in die Hände bzw. vor die Augen. Mit neun Jahren will er schon das Berufsziel Schriftsteller gehabt haben.

Nach der Schule wurde Karl May zuerst Lehrer. Wegen eines kleinen Diebstahls – er hatte Kerzenstummel aus hausinternen Kerzenhaltern für Zuhause für Weihnachten „eingesteckt“ – wurde er vom Lehrbetrieb „beurlaubt“, de facto entlassen. Daraufhin versuchte er sein Glück mit vielen kleinen Jobs, u.a. als Musiklehrer. Nebenbei erlaubte er sich aberwitzige kleinkriminelle Aktionen, die ihn zweimal ins Zuchthaus brachten. Es handelte sich um kleine, unkonventionelle Akte wie das „Leihen“ einer Uhr, die er später auf jeden Fall hatte zurückgeben wollen. Die Zuchthausaufenthalte nutzte er intensiv als Lernmöglichkeit, denn er gewann das Vertrauen der Wärter und wurde für die Gefängnisbibliothek eingesetzt. Beim zweiten Aufenthalt entschied er sich endgültig für den Schriftstellerberuf. Bereits im Gefängnis entwarf er Titel und Handlungsstränge für einige seiner späteren Bücher.

Ab dem 32. Lebensjahr 1874 schrieb May nur noch brav, d.h. er lebte ohne Anecken. Von 1878 bis 1900 wuchs seine Popularität beständig. Ab 1900 hatte er jedoch ein Jahrzehnt lang mit Presseangriffen und Prozessen gerichtlich schwer zu tun. Er wurde u.a. angegriffen, dass er wohl psychisch krank sei – mit Bezug auf diese frühen „Gaunereien“. Es wurde sogar 1891 nur für ihn (welche Ehre…!?) von A. Delbrück die Diagnose „Pseudologia Phantastica“ erfunden! Das bedeutete, dass der Phantasierende das Erdachte als wahre Erlebnisse erzählt und wohl auch empfindet. Ein Grund, ihn anzugreifen war, dass Karl May sich selbst sehr gut zu vermarkten wusste. Heute ist das allgemein üblich, er war einfach früh dran damit. Seine Bücher wurden aus mehreren Bibliotheken zurückgezogen, als zwei Schüler in Freiburg i. Br. die Lektüre von Mays Werken als Inspiration für eine Gewalttat angaben. Heute würde niemand mehr deshalb die Privatsender streichen.

Der hochgebildete Karl May hatte in seiner Bibliothek das seinerzeit verbreitete Lehrbuch zur Psychiatrie von Wilhelm Griesinger. Da die Psychiatrie erst noch im Entstehen begriffen war, waren die Beschreibungen der Zustände noch nicht verfachsprachlicht. In seiner Selbstbiographie versuchte May, den Vorwurf zu widerlegen, er sei geistig krank, hingegen sei er nur seelisch krank. Dabei hat er die sehr guten Beschreibungen dieser Zustände bei Griesinger verarbeitet. Er war klug genug, diese nicht wörtlich zu übernehmen.

Karl May hat getrieben geschrieben. Er hat sich selbst über seine autonomen Schreib-Lernschritte therapiert, was er auch selbst erkannte. Er war insofern seiner Zeit voraus. „Schreib- und Bibliotherapie“ ist heute populär. Ein Studium „Magister Artium für biographisches und kreatives Schreiben“ ist seit 2005 auch in Deutschland an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf möglich.

Heike Oldenburg

Juli 2009

Quellen: Karl May, Mein Leben und Streben, Hildesheim/ New York 1982

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