Das Schulprojekt nach dem Vorbild des Leipziger „Irrsinnig menschlich e.V. – Verein für Öffentlichkeit in der Psychiatrie“ wird seit kurzem vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin auch in Berlin zu etablieren versucht. Bisher gab es je einen Schulauftritt in der Carl-von-Linné-Schule in Lichtenberg und in der Rheingauschule in Friedenau. Es gehen ein oder zwei Betroffene als ExpertInnen in eigener Sache und eine Moderatorin für fünf Stunden in die Klasse, um die SchülerInnen für die Problematik „Leben mit psychischer Erkrankung“ zu sensibilisieren. Besucht werden alle Schulformen von der 9. Klasse aufwärts.
Beim Schul-Auftritt Dezember 05 in der Rheingauschule war ich als Betroffene mit dabei. Als ich ankam, waren Thommy, ein ebenfalls Betroffener, und Patricia di Tolla vom Paritätischen standen schon da. Der Lehrer leitete uns in den ersten Stock. Dort warteten 27 SchülerInnen von der 8. bis 12. Klasse, in einem Mediationskurs zusammengewürfelt, auf uns.
Die SchülerInnen sollten auf das Thema eingestimmt sein. Wir zogen die drei Phasen durch. In der ersten offenen Runde werden die Vorstellungen, Erfahrungen und Kenntnisse der SchülerInnen erfragt, gesammelt und festgehalten: Was denken sie über psychisch Erkrankte, was über Psychiatrie, wie sind sie ihnen bisher begegnet, welche Bilder sind aus Medien vertraut?
Im zweiten Teil sollen die SchülerInnen in Kleingruppen konkrete Aufgabenstellungen bearbeiten wie: „Was hilft mir, wenn es mir schlecht geht?“ – „Was belastet, was verletzt mich, was halte ich nicht aus?“ – „Was ist das, die Psyche?“ Oder ein Spielauftrag: „In unserem kleinen Ort soll ein Wohnheim für psychisch kranke Jugendliche aufgemacht werden, inszeniert eine Bürgerversammlung dazu.“ In dieser Bürgerversammlung war eine junge Frau als Gegenposition, die total übel gut gespielt war, sehr tough! Das hat mich sehr eingeschüchtert, und ich dachte: Ich erzähl nicht viel über mich in der dritten Phase, verdammt! Patricia sagte hinterher, dass Argumente pro etwas Neuem finden eh schwieriger sei als anders herum, das war neu für mich.
Die beiden ersten Phasen gingen schnell, was am Ende als zu langweilig kritisiert wurde. Thommy und ich hielten uns zurück, die SchülerInnen sollten selbst herausfinden und für sich benennen.
Dann kam die dritte Phase, der Dialog mit der/m Betroffenen – Erfahrungen von einem Menschen, der vieles bewältigt hat. Der Lehrer hatte leider den kids nichts von uns Betroffenen erzählt. Ich schob den Thommy vor, weil er schon erfahrener war. Er erzählte, dass er aus dem Fenster heraus ist, das wusste ich vorher gar nicht. Das hat mich ermutigt, auch mehr von mir zu erzählen. Ich war sehr unsicher, wie viel und wie tief ich erzählen solle, aber die Zeit reichte nur zum Anreißen meiner eigenen Geschichte, der „Schatzkiste Berlin“, Kontakt- und Partnervermittlung für psychisch und anders Beeinträchtigte sowie der Antipsychiatrie. Die meiste Zeit in dieser Phase ist dafür reserviert, auf die Fragen der SchülerInnen einzugehen. Vor allem interessierte sie die Psychiatrie mit ihren Zwangsverhältnissen. Die Frage brannte, wie sie damit umgehen sollen/ können, wenn jemand, der ihnen begegnet, helfen wollen.
In der Feedback-Runde wurde mehrfach kritisiert, dass wir kein allgemein gültiges Rezept für den Umgang mit psychisch Kranken gegeben haben, aber das gibt es ja nun mal nicht. Jede/r zweite war extrem beeindruckt und dankbar, dass jemand sich traut, so offen über dieses Tabuthema zu sprechen. Die SchülerInnen erlebten das Reden über Schwäche als eine Stärke. Mehrere haben das Wort „Respekt“ benutzt. Eine drückte am Ende ganz lange und fest meine Hand und wünschte mir ein gutes Fortleben. Dann haben wir uns verabschiedet.
Seit 2001 haben über 2.500 SchülerInnen an 70 Schulen in sieben Bundesländern an „Verrückt? Na und!“-Schulprojekten teilgenommen. Insgesamt fand ich es heute gut, dass wir zwei Betroffene beiderlei Geschlechts, aber leider nur mit einem Krankheitsbild waren. Ich bin neugierig auf den nächsten Auftritt!
Heike Oldenburg
Januar 2006