Daniel Paul Schreber (1842-1911), Sohn des Schrebergarten-Erfinders, wurde in seiner Karriere durch einen religiösen paranoiden Wahn behindert. Trotz einer Nervenkrankheit Oktober 1884 arbeitete er noch sieben Jahre als Landesgerichtsdirektor in Leipzig und wurde 1893 zum Senatspräsidenten im Oberlandesgericht in Dresden befördert. Dies führte zu einer schweren Dauerkrise.
Schrebers Aufenthaltsort 1894 bis 1902, die erste „Königlich Sächsische Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein“ (von ihm „Teufelsschloss“ genannt), wurde 1811 eröffnet und hatte einen sehr guten Ruf. Es gab getrennte Spaziergärten und Höfe für Männer und Frauen. Je nach Finanzkraft der PatientInnen gab es drei Kategorien der Unterbringung, jedoch die Behandlung war für alle gleich. Der ungewöhnliche Ansatz war, die PatientInnen human zu behandeln und zu beschäftigen, möglichst ohne Zwang, Bestrafung und Isolation. Dem Direktor Guido Weber lag die Wiedereingliederung seiner PatientInnen sehr am Herzen. Mit seiner Hilfe gelang es Schreber, seine Entmündigung gerichtlich zu bekämpfen und 1902 die Aufhebung zu erwirken.
Empfinden – Nachdenken – Schreiben
Anhand von Tagebuchnotizen schrieb Schreber von Februar 1900 an seine „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ nieder. 1903 kam das Buch heraus. Es stellt in sehr differenzierter Weise das Erleben eines paranoiden Psychotikers dar. Schreber bot sich „als ein wissenschaftliches Beobachtungsobjekt“ an, wenn auch nur aus der Not des eben nun einmal Besonders-Seins heraus. Die Gedankenwelt des Autoren ist sehr umfassend – immerhin ist das Buch 260 Seiten dick und es war für sowohl Freud als auch Canetti von großer Bedeutung.
Schreber litt sehr stark. Faszinierend ist die Beschreibung der sich durchziehenden Bedrohung und Fremdbestimmtheit durch auferlegte Bewegungsunfähigkeit, durch aufgezwungene Gedanken, durch Angst vor Verweiblichung. Einmal rechnete er fest damit, dass sein Gemächt nun „endgültig nach innen eingezogen“ würde. Er sollte zu „Miss Schreber“ werden.
Es gab in seiner Gedankenwelt zwei Gottesreiche, verbunden durch Verstandesnerven, eine Art „Willensorgane“. Daneben gab es „Gesichts-, Gehörs-, Tast- und Wolllustnerven“ zur Aufnahme sinnlicher Eindrücke. Letztere führten zur Seelenwolllust. Die Seelen „kennen nun (…) keine Sorge für die Zukunft, sondern lassen sich am jeweiligen Genusse genügen“. Auf der einen Seite gab es „alltäglich (…) Zeiträume, in denen ich sozusagen in Wolllust schwimme, d.h. ein unbeschreibliches, der weiblichen Wolllustempfindung entsprechendes Wohlbefinden meinen ganzen Körper durchströmt.“ Er entschuldigte sich einmal für das Ausmaß dieser wollüstigen Empfindungen in ihm, die seien eben da. Tja, Pech gehabt? Oder wie nun …
Grenzüberschreitende Angstgedanken waren z.B.: Er „sollte durch angespannte Nerven an irgendwelchen entfernten Weltkörpern angebunden werden“ oder die körperliche Auflösung mit den Pflegern: „Zwei der Pfleger setzten seiner Vorstellung nach Teile ihrer Leiber als faulige Masse in seinem Körper ab.“ Schreber hatte auch Angst, dass „in seine Nerven hineingeredet worden“ würde (die Strahlen sprechen) und befürchtete: „wenn nur meine Kniescheibe nicht verwundert würde.“ Das „Ver-„ oder auch „Anwundern“ taucht als Vokabel oft auf und scheint ein Synonym für Verletzung, schmerzliche Veränderung zu sein.
Schrebers angstlösender Genuss in der Anstalt im Alltag waren Klavierspielen, Schachspielen und Lesen.
Männliches Selbstlob
Der ganze Text ist durchdrungen von „etwas Selbstlob“, von selbstherrlicher Selbstwahrnehmung durchzogen. Der Herr Paranoiker ist und bleibt ein Mann. In gewissem Sinne hielt er sich für „den Maßstab“. Es sollten Menschen nach seinem Beispiel geschaffen werden: „Jene >neuen Menschen aus Schreber´schem Geiste< – körperlich von sehr viel kleinerem Schlag als unsere irdischen Menschen (…) ich selbst sollte ihnen als ihr >Nationalheiliger< sozusagen ein Gegenstand göttlicher Verehrung geworden sein.“
Erholung und Selbstheilung
Im Nachtrag 1902 schrieb Schreber über weitere „Wunder und Stimmengerede“ in ihm: „ein >Warum sch… Sie denn nicht?< gesprochen >W-a-a-a-r-r-u-m-sch-ei-ei-ei-ß-e-e-n Sie d-e-e-e-e-n-n n-i-i-i-i-icht?< beansprucht jedes Mal vielleicht 30 bis 60 Sekunden, ehe es vollständig herauskommt.“ Schreber schien aber mit der Zeit seine Zustände mit Denken bändigen zu können: „Die Brüllzustände sind zwar noch nicht ganz verschwunden, treten jedoch nicht unwesentlich gemäßigter auf, hauptsächlich, weil ich mehr und mehr gelernt habe, (…) (ihnen, d.A.in) wirksam zu begegnen.“ Dazu sagte er Gedichte auf oder zählte anhaltend. Er hatte seinen Heilungsprozess sozusagen selbst durch seine eigenen Denkmethoden, durch Bewusstheit „in der Hand“. Ein Symphonion und Spieluhren „[übertäubten] das schwer erträgliche Stimmengeschwätz“ – auch dies ein Hilfsmittel im Umgang mit den eigenen Ängsten. Allerdings ein durchaus teures, welches er sich als Senatspräsident i. R. (im Ruhestand) leisten konnte. Schreber beschrieb „Eingriffe in die Freiheit des menschlichen Denkens“ durch den Denkzwang als „maßlose Verletzung der ursprünglichsten Menschenrechte“.
Von 1902 bis 1907 lebte Schreber zu hause, musste sich dann aber wieder in Behandlung in Leipzig-Dösen begeben, wo er 1911 starb.
Heute befindet sich in dem Gebäude C 16 (1940/41 wurden im Keller 13.720 Behinderte und 1.031 andere Opfer vergast) eine Gedenkstätte. Auf dem Weg dorthin geht es durch grünes Gelände mit vielen alten kleinen Bauten, mit Ausbildungsstätte, Arztpraxis u.a. Zwischen den Häusern ist gemütlich viel Abstand, wo sich sicherlich damals die PatientInnen gut die Beine vertreten konnten. Direkt daneben betreibt die AWO eine „Anerkannte Werkstatt für Behinderte“. Sehr sinnig …
Heike Oldenburg
März 2009