„Recovery – Das Ende der Unheilbarkeit“, ein sehr engagiertes Buch von zwei ebensolchen Frauen und empfohlen von der World Psychiatric Association1 (WPA), ist 2012 in der fünften, stark erweiterten Fassung erschienen. Das Buch mit seinen fast 400 Seiten bietet einen einmaligen, umfassenden Überblick über verschiedene Bewegungen und Initiativen, die weltweit von Menschen mit psychosozialen Gesundheitsproblemen ins Leben gerufen wurden. Der Stand regional bemerkenswerter Systemwandel wird ebenfalls umfänglich dargestellt. Es besteht kein Tabu darüber, dass Mitarbeiter_innen im psychosozialen Gesundheitsbetrieb die Behandlung häufig mehr behindern als die Behinderten selbst. Es ist ein Buch, das in jeden Bücherschrank gehört und bei dem es sich immer mal wieder lohnt, es hervorzuholen und abschnittweise zu lesen. Die Überschriften sind übersichtlich gewählt und die Kapitel gut unterteilt. Für mich als Feministin ist es darüber hinaus wirklich angenehm, dass die Autorinnen konsequent abwechselnd die männliche wie die weibliche Form verwenden, wie „Nutzer“ und Nutzerinnen“, und so deutlich immer beide Geschlechter gemeint sind.
In den beiden Selbstdarstellungen der Autorinnen am Ende des Buches finden sich beruhigende, schöne Sätze über die Selbstsicht und deren Motivation, das Buch zu schreiben. Margit Schmolke schreibt: „Was ich gelernt habe, ist, dass ein Recovery-Prozess einfach seine Zeit braucht und seine eigene Dynamik hat und wir Kliniker die Geduld nicht verlieren dürfen.“ Michaela Amering schreibt, dass sie, sollte sie jemals psychotisch werden (sie weiß: Es kann jede/n treffen): „… möchte ich, dass sehr behutsam mit mir umgegangen wird.“ – Die Standpunkte zeigen zugleich das Niveau des Herangehens an die Thematik und an uns Betroffene als gleichwertige Menschen. Beide arbeiten an unterschiedlichen Stellen im Weltverband für Psychiatrie mit.
Ursprünglich ein im Gesundheitsbereich bereits älterer Begriff, wird Recovery neuerdings im psychosozialen Bereich für Erholung, Genesung, Gesundung, Ausheilen, Rettung eingesetzt. „Recovery ist ein Prozess, ein Lebensstil, eine Einstellung und ein Weg“. Es hat hier die Bedeutung, dass schwierige Lebenserfahrungen in den Alltag integriert werden und dass eine Lebenssituation hergestellt werden kann, in der mit Symptomen bzw. Behinderungen sinnerfüllt und wohlig gelebt werden kann.
In den Interviews einer schwedischen Studie von 2001 hatte der Autor der Studie den Eindruck, dass die Gesprächspartner_innen während des Interviews viel über sich verstanden. Die Befragten ordneten ihre Erfahrungen mit Recovery individuell und subjektiv ein. Oft waren mehrere Modelle der Heilung kombiniert, wie das medizinische Modell mit dem psychotherapeutischen, das interaktionale mit dem spirituellen. Zentral schien am Ende, dass mensch krank und gesund, verrückt und normal zur selben Zeit sein könne. Eine andere Studie ergab, dass Menschen mit psychiatrischen Diagnosen einen „erheblichen Anteil ihrer verfügbaren Energien“ dafür aufwenden, „um (…) wieder Ordnung, Bedeutung, ein Gefühl von Routine und Normalität in ihrem Alltagsleben herzustellen.“
Eine Studie von Pat Deegan, einer bekannten Betroffenen, zu „personal medicine“, also was einer jeden individuell gut tut, enthielt das erschütternde Ergebnis, dass nur vier von 29 Interviewten ausdrücklich von ihren Psychiater_innen nach ihren Strategien, sich selbst zu helfen befragt wurden! Zu diesen Vorgehensweisen gehören so selbstverständliche Alltagsdinge wie „fischen gehen, mathematische Probleme lösen“ u.a.. Viele Betroffene hatten sehr individuelle Weisen, sich zu helfen. Medikamente wurden eher vermieden, wenn sie der „personal medicine“ im Wege standen. Pat möchte ermutigen, „kraftvolle Äußerungen“ gegenüber Behandler_innen zu entwickeln, wie: „Singen baut mich auf und gibt mir Sinn. (…) Ich möchte mit Ihnen zusammenarbeiten, um ein Medikament und eine Dosierung zu finden, die meinem Singen nicht in die Quere kommt.“ Nach Pat rührt die Sprachlosigkeit zwischen Betroffenen und ihren Psychiater_innen von der noch immer defizitorientierten Psychiatrie-Ausbildung her. Es werde überwiegend auf möglicherweise auftretende Schwierigkeiten vorbereitet, wie mit Rückfällen, mit Aggressionen etc. umzugehen sei. Erfolg und Potenzial im Klienten zu erkennen und zu fördern, werde nicht gelehrt. Daher müssen Menschen in die Ausbildung hereingeholt werden, die Recovery in ihrem Leben umsetzen, um Bewusstsein für diese Seite in uns zu wecken. Bei einem Vortrag zur Umsetzung bzw. zur Umsetzbarkeit von Recovery-Orientierung in Kalifornien im Jahr 2004 fiel folgender bemerkenswerter Satz unter den Zuschauern: „Das Ganze klingt unrealistisch, aber je genauer man es betrachtet, desto durchführbarer erscheint es.“
In diesem Sinne müsse die Gesundheitspolitik davon überzeugt werden, dass der Ansatz Recovery einen Systemwandel herbeiführen werde. Need Adapted Treatment2, der Einbezug von Nutzer_innen in die Behandlung, Patientenverfügungen u.a. müssten vorangetrieben werden. Der Offene Dialog aus Finnland weist dermaßen deutliche Behandlungserfolge auf, dass es mir wirklich außerordentlich erstrebenswert scheint, dieses Familien- und Netzwerkmodell auch bei uns verstärkt einzuführen. Dialog ist eine Grundvoraussetzung für positive Veränderungen in jeder Therapie. Die überwiegend zuhause behandelten Nutzer_innen erleben kürzere unbehandelte Psychosen, weniger Tage Klinikaufenthalte, seltener Restsymptome sowie extrem wenige Rückfälle. Amering und Schmolke stellen Alternativen zur Psychiatrie vor. Zum Beispiel werden seit 1985 „Alternatives Conferences“ organisiert. Deren Jahrestagungen haben so interessante Titel wie „In Freiheit erinnern. In Freiheit entscheiden. In Freiheit träumen (2001).“
Als ein sehr zentrales Problem werden die Mitarbeiter_innen im psychiatrischen Umfeld und deren Menschenbild benannt. Von 2004 gibt es eine Studie aus Norwegen, die sich mit helfenden Beziehungen befasst. Der Faktor Mitmenschlichkeit, die Empathie, der Respekt wurden im Umgang mit uns allgemein als am hilfreichsten erlebt. „Zeit zur Verfügung stellen und einfach da sein“ war ein zentrales Moment, also gut verfügbar/ erreichbar sein, auch mit den Herzen und auch manchmal über die professionelle Zeit hinaus. Solche Behandler_innen, die über ihre professionelle Rolle hinausgingen und -gehen, haben einen sehr guten Stand bei den Menschen, denen sie bei der Heilung erfolgreich zur Seite gestanden haben. „Menschliche Qualitäten scheinen wichtiger zu sein als Titel, Ausbildungshintergrund oder angewandte Methoden und Techniken.“ Der Begriff „schwere psychische Erkrankung“ müsse weniger defizitorientiert vermittelt und neu definiert und umgedeutet werden. Die Profis seien nicht mehr „die Experten über das Leben“ der Betroffenen, sondern sie seien zur Begleitung da, zum Sich-daneben-Stellen-und-Fragen.3 Fachbücher müssen umgeschrieben werden, um weniger Pessimismus zu verbreiten und mehr Hoffnung zu erlauben.
„Recovery – Das Ende der Unheilbarkeit“ gehört als Grundlagenwerk in jede Universität. Darüber hinaus wäre es sicherlich eine tolle Initiative, eine (oder viele!) Arbeitsgruppe aus Peers4, aus Studierenden, aus Professionellen – in getrennten Gruppen sowie trialogisch – zu bilden, die sich monatlich treffen und über einzelne Kapitel des Buches sprechen, um diese wertvollen Inhalte bekannter zu machen und für sich selbst umsetzen zu können.
Heike Oldenburg
Juli 2013
Michaela Amering/ Margit Schmolke, „Recovery – Das Ende der Unheilbarkeit“, 5., überarbeitete Auflage 2012, Psychiatrieverlag Bonn, € 29.95
1 Weltverband für Psychiatrie
2 Bedürfnisangepasste Behandlung von Psychosen
3 Dieses Wissen ist schon länger gegeben, aber die Autorin H.O fragt sich, warum es immer noch so wenige Behandler_innen schaffen, es im Alltag umzusetzen.
4 Gleichartige