Blitzed: Drogen in Nazi Deutschland (Eine Buchbesprechung)

von Niall McLaren (australischer Psychiater, der 25 Jahre im entfernten Norden Australiens gearbeitet hat. Er beschäftigt sich mit der philosophischen Basis der Psychiatrie, und er hat herausgefunden, dass es keine gibt. Das hat ihn unpopulär bei Kolleg*innen gemacht.)

5. März 2017

Bereits im frühen Jahr 1959 erlaubten mir meine möglicherweise unklugen Eltern den britischen Film Dunkirk anzusehen, der den verzweifelten Rückzug der britischen Militärkräfte aus Frankreich nach dem Einmarsch der Deutschen im Jahr 1940 beschreibt. Ich erinnere mich, dass ich danach tagelang kaum schlafen konnte, unfähig, den Horror, den es so prägnant abbildete, abzugleichen mit der offiziellen Version von Kriegsführung, die wir jeden Anzac Day zu hören bekamen (die örtliche Variante des Gedenktages (Remembrance Day or Memorial Day).

Im August desselben Jahres hörte ich das erste Mal den Namen Auschwitz. Mein Vater wollte mir nicht erklären, was es bedeutete, also fand ich es selbst heraus. Bevor ich das Abitur hatte, hatte ich sehr viel über den Zweiten Weltkrieg gelesen, unter anderem Bullock’s Biographie über Hitler, Shirer’s Rise and Fall of the Third Reich, des Diktators politisches Testament, sowie Berichte über den unbeschreiblichen Horror in den Todeslagern. Meine Aufnahme wurde ausbalanciert, wenn mensch so sagen kann, von australischen Büchern über den Pazifischen Krieg und über die Geschichte der Sowjetunion, was mich zu der Überzeugung brachte, dass Krieg keine Zukunft habe, eine Thema, welches mich nie verlassen hat.

Jedoch eine Frage wurde von keinem dieser vielen, vielen gelesenen Bücher beantwortet: Wie hat es die Wehrmacht geschafft, sich dermaßen erfolgreich zerstörend quer über ganz Europa hin auszubreiten? 1940 war die französische Armee die bestausgerüstete und mächtigste Armee der Welt; in nur neun Tagen war sie zu Pulver zerrieben. Die riesengroße Rote Armee war in Zahlen den eindringenden Achsenmächten weit überlegen; dennoch wurden in den ersten fünf Monaten der Operation Barbarossa im Jahr 1941 mehr als drei Millionen sowjetische Soldaten gefangen genommen. Bis Anfang 1942 waren 97 Prozent von ihnen tot, der größte Massenmord an Menschen in unserer gesamten gespenstischen Geschichte. Zugegeben, die sowjetischen Soldaten waren oft kaum belesene Bauernsöhne mit einer schlechten Ausbildung, die einer gut ausgerüsteten Armee mit dichter Unterstützung durch die Luftwaffe entgegen geschleudert wurden, doch das lieferte keine Erklärung. 1941 waren die Transportmittel der Nazis größtenteils von Pferden gezogen und blieben vielfach in den ersten Herbstregen im Schlamm stecken.

Erst jetzt ist eine Untersuchung in den riesigen Originalarchiven nationalsozialistischen Materials, das in Deutschland, den USA und anderen Zentren aufgehoben wird, so gründlich durchgeführt worden, dass sie eine glaubhafte Antwort auf diese Frage geben könnten. In seinem ersten Sachbuch hat der deutsche Autor Norman Ohler eine völlig glaubwürdige Erzählung davon geliefert, wie die große Mehrheit der deutschen bewaffneten Truppen die Kriegsjahre high auf Methamphetaminen verbracht hat.

In einer Arbeit von bemerkenswerter Gelehrsamkeit hat Ohler zwei Themen verfolgt: wie ein geschäftstüchtiger Drogenhersteller das Potenzial von Methamphetaminen erkannte und es ihm gelang, es dem Oberkommando als eine sehr wertvolle, jedoch völlig ungefährliche Droge zu verkaufen, die den Soldaten tagelange Wachzeiten bescheren werde. Nur kurz vor dem Einfallen in die Beneluxländer und Frankreich produzierte seine Fabrik 850.000 Methamphetamin-Tabletten täglich, wovon praktisch alle für die Truppen bestimmt waren – von den obersten Generälen bis hinunter zu den untersten Gefreiten. Für die Ardennen-Offensive hatte die Wehrmacht unglaubliche 35 Millionen Tabletten auf Vorrat angelegt, von denen alle in diesem verrückten, kopfüber und atemberaubenden Ansturm hin zum Kanal aufgebraucht wurden. Pervitin Tabletten einwerfend, ließen diese General Heinz Guderian, dem das Konzept des bewaffneten Blitzkrieg zugeschrieben wird, über drei Tage lang wach bleiben. In dieser Zeit bewegten sich seine Truppen hinter den französischen Abwehrkräften der Maginotlinie und verbreiteten Chaos und Angst überall, wohin sie kamen.

Dies war die Wahrheit über praktisch alle berühmten Kommandanten, und, wenn die Generäle nicht schliefen, welcher Soldat hätte dann den Tabletten widerstehen können, die ihm wach zu bleiben erlaubten und an dem ekstatischen Sieg teilzuhaben? Ohler zeigt auf, dass die Operation Barbarossa vermutlich die weltgrößte koordinierte Gruppen-High war; ohne die Drogen versanken die Nazitruppen schnell in Erstarrung, aus der sie sich nie erholt haben.

Zu derselben Zeit arbeitete in Berlin Hitler´s persönlicher Arzt, Theodor Morell, hart, indem er seines berühmten Patienten tiefsitzendem Misstrauen vor normalen Ärzten entgegenkam und ihm täglich seine eigene Erfindung injizierte und ihn damit schlussendlich unheilbar abhängig von Oxycodon, Methamphetamin und Kokain machte. Morell selbst war ein neurotischer, sogar korrupter und skrupelloser Scharlatan; die Bindung, die er mit Hitler teilte, war vermutlich die vertrauteste in beider verzerrter Leben. Nach der Verschwörung vom 20. Juli war Hitler körperlich und psychisch behindert. Morell konnte ihn nur in Gang alten durch immer stärkere Dosen von Narkotika und Stimulanzien, wobei Hitler vermutlich immer noch glaubte, Morells patentierte Hormon- und Kräutermischungen zu erhalten, die er so schätzte.

Bizarrerweise bezieht keine der wichtigen Referenzen zu Hitlers Leben Morell in mehr als nebensächlicher Weise ein, dennoch scheint es nun so, dass er aktiv den Verlauf des Krieges beeinflusste – zum Nachteil hin. Ohler gelang es, praktisch alle von Morells akribisch-detaillierten Akten zu Hitler ausfindig zu machen und seinen grauenhaften und schwer verschleierten Schreibstil zu entwirren. Die von ihm präsentierte Beweislage ist überwältigend: Der jüngere Hitler war eine schwer gestörte und neurotische Persönlichkeit. Bis in die späten 30er Jahre hinein glitt er vermutlich immer wieder in Phasen von paranoider Psychose hinein, jedoch schien er mehr oder weniger in der Lage zu sein, diese willentlich hervorzurufen. Während der Kriegsjahre wurde seine Stimmungslage schwer von Morells Drogen beeinflusst, bis er nach dem Mordanschlag durch Stauffenberg im Juli 1944, hoffnungslos abhängig wurde, getäuscht und unfähig, das um ihn herum Geschehende wahrzunehmen bzw. darauf angemessen zu reagieren.

Das Buch ist gut geschrieben von einem erfahrenen Schriftsteller, obwohl es gegen Ende hin ein bisschen schwülstig wird. Als geschichtliche Untersuchung bietet es einen Reichtum an bestätigenden Details über eine Ära, die uns nie verlassen wird. Es bringt ebenso die Frage auf, ob Methamphetamine oder andere Stimulanzien je sicher einzunehmen sein können. Dieses Buch ist sehr empfehlenswert für alle, die an den dunkleren Seiten der menschlichen Natur interessiert sind, was alle Psychiater*innen mit einschließen sollte.

Übersetzt von Heike Oldenburg, April 2017

Norman Ohler, Der totale Rausch – Drogen im Dritten Reich, Kiepenheuer & Witsch, Köln

2015/ TB 2017 (2016 in 14 Übersetzungen, u. a. in England, USA, Frankreich, Spanien, Italien, Russland, Polen, der Türkei und Holland)

Quellen: original auf: https://www.madinamerica.com/2017/03/book-review-blitzed-drugs-nazi-germany/ ; https://www.madinamerica.com/author/nmclaren/

https://de.wikipedia.org/wiki/Norman_Ohler

http://www.kiwi-verlag.de/buch/der-totale-rausch/978-3-462-04733-2/

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