Was ist passiert? Die Fakten:
Mit Sponsoring meines Trägers konnte ich nach Göppingen bei Stuttgart fahren, um dort an einer Fachtagung des „MuSeele“, des dortigen Psychiatriemuseums im Krankenhaus, teilzunehmen. Am ersten Tag ging es anlässlich des 200. Geburtstages des Gründers des Christophbads um Fortbildung, die Bedeutung der Rehabilitation und der Arbeit von Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen von 1859 bis heute. An diesem Tag waren ca. 60 Menschen anwesend. Es fiel mir auf, mit welch großer Herzlichkeit der Organisator der Tagung, Rolf Brüggemann, Diplom-Psychologe, Leiter des MuSeele seit 2004 und seit 30 Jahren Chefredakteur der Seelenpresse (Zeitung im Haus) einzelne Menschen begrüßte.
Am zweiten Tag der Tagung waren ca. 20 Menschen anwesend, bis hinauf zur Professor*in. Nur ein einziger Mann neben mir war sichtbar körperlich behindert, er hatte ein Cochlea Implantat hinter den Ohren und war nur mit Mühe zu verstehen. Die anwesenden Vertreter*innen der ca. 13 Psychiatriemuseen aus dem deutschsprachigen Raum haben sich am Vormittag einander gegenseitig vorgestellt. In zwei Workshops ging es am Nachmittag um die Fragen: „Wie kann die Kooperation gefördert werden?“ und: „Wie können wir besser Werbung für uns machen?“
Mein Gefühl war, dass mein Vortrag über die beiden von mir entwickelten Bremer Psychiatrie-Historischen Stadtführungen gut ankam. Dazu gab es zwei entsprechende Rückmeldungen im Nachhinein. Ich war die einzige, die ein Wort wie „Sinnlichkeit“ in den Mund nahm und dass sie mir wichtig sei. Von Rückzugsräumen als Schutz vor der Psychiatrie oder von EX-IN-Ausbildung1 hatten die meisten Anwesenden vermutlich noch nie etwas gehört. Ich war privat untergebracht, vermittelt über den Organisator der Tagung. Mein Gastgeber Abram W. war ein wundervoller Gastgeber, eine Sonne vor dem Herrn!!! Ein Künstler mit sehr schweren Lebenserfahrungen, aber mit nun bewundernswert großer Ruhe im Körper. Dort war ich wirklich gut aufgenommen. Dennoch hat mich die Tagung im Nachhinein außerordentlich belastet und traurig gemacht. Die Sicht auf mich als „eine starke Person“ hilft mir beim Verarbeiten.
Also, was war dann das Problem?
Der thematische Inhalt war nicht das Problem. Aber MEIN Inhalt war die als Mensch erlebte 3-fache Exklusion. Auf der Beziehungsebene erlebte ich mich auf dieser Tagung als Psycho-Akademikerin, als Körperbehinderte und als finanziell Arme zurückgewiesen. Tagelanges Weinen war die Folge und Leibschmerzen vom feinsten! Nur noch schlafen mit Wärmflasche und Heizkissen im Rücken, mein Krankengymnast hat eine Woche später noch in meinen Schultern die Knoten gelöst. Kann psychische Gewalt solche schwerwiegenden Folgen haben? Psychische Gewalt erkennt man ja häufig erst später.
Hinzu kamen Probleme mit der Bundesbahn auf der Hin- wie der Rückfahrt. Unser IC musste Passagiere aus einem liegengebliebenen ICE aufnehmen und wurde später ausgesetzt. Mit anderer Reisender Hilfe (ohne Mobilitätsservice!) gelang mir das Umsteigen in den ICE in Mannheim nach Stuttgart. Weiter nach Göppingen. Dort kam ich so verspätet an, dass ich den Bus verpasste und diese deutschen Fußballlümmel mich mit ihrem Siegeslärm in ein Taxi trieben, für das ich den Fahrpreis selbst auslegen musste (Monatsende!). Auf der Rückfahrt war in Fulda beim Ausstieg ebenfalls aufgrund eines Fehlers der DB keine*r zum Helfen da! Da wäre beinahe ein lange vorher vereinbartes Treffen ausgefallen!
Schon der Einstieg zur Rückfahrt ohne jede Hilfe war für mich ausgesprochen diskriminierend: Vier Tagungsteilnehmer*innen reagierten befremdet auf meine Frage, ob jemand als Begleitperson für mich umsonst fahren möchte (dies milde Befremden in den Blicken bei meiner Frage …). Keiner der vier ist mit an die Spitze des Zuges gekommen, so dass ich dort mit fremder Hilfe einsteigen musste, um die Umstiegshilfe in Stuttgart am verabredeten ersten Wagon treffen zu können. So konnte ich auch nicht noch mit den Kolleg*innen fachsimpeln. Armut und Körperbehinderung gehört weder zu deren Erlebniswelt noch zu deren Denkkategorien. Ich habe mich noch nie dermaßen konsequent in JEDER Beziehung ausgeschlossen gefühlt!
Danach
Erst in Fulda, nach bereits einer durchweinten Nacht, wurde mir dies klarer. Ich traf dort meinen Nennonkel, der mich seit Jahrzehnten begleitet und mir viel Mich-verstehen hilft. Was ihm jetzt zwar sofort klar war, hätte jedoch auch er im Vorfeld so nicht voraussehen können.
Zwar wurde die Darstellung meiner Stadtführungen positiv aufgenommen, nicht ohne Grund, wie ich meine: Ich war die einzige offen als „Psycho“ lebende Akademikerin auf dieser Tagung! Ich war Akademikerin, wie die anderen Teilnehmer*innen auch!! Daher hat mensch mich wohl in unbewusster Abwehr als „Exotin“ ansehen müssen. (Überspitzt gesagt: Vor 300 Jahren haben die Europäer*innen auch die wenigen Schwarzen im Lande wie „Exoten“ angesehen2. Oder die Zwerge bei Hof: „Interessant! Interessant! Hübsch! So anders! Gucken wir doch mal!“ Aber dann wieder weggehen, die stehen lassen, sich nicht einlassen.) Denn ich lebte ihnen allen vor: Auch DIR kann es passieren!! JEDER Mensch und auch jede Akademiker*in kann von psychischen Gesundheitsproblemen betroffen werden. Deshalb mussten sie mich in Selbstschutz-Abwehr„weglächeln“. Außerhalb meines Vortrages wollte keine*r mit mir zu tun haben. Die beiden mir zugewandtesten Leiter von Psychiatriemuseen waren anderweitig beschäftigt, was in Ordnung war. Es hat zu dem Zeitpunkt vermutlich keine*r realisiert, was geschah. Auch ich nicht. Und natürlich ist das nur meine Realität. Kein anderer wurde so behandelt wie ich: mit voller Breitseite die Körper an mir vorbei geschoben, mild-verlegenes Lächeln, besonders von Frauen fiel es mir auf, die Blicke nach links unten vorwärts gewendet, bloß weiter, nicht mal Blickkontakt, bloß alles vermeiden, was einladend sein könnte. Das tut weh. Sehr.
Das Sächsische Psychiatriemuseum ist zwar in ein von einem Betroffenenverein betriebenes Haus integriert. Der Leiter steht „auf unserer Seite“, auch verbal. Morgens gab es bei meinem Gastgeber folgenden Dialog mit dem Organisator der Tagung: Ich: „Th. M. wird Betroffener sein, der ist doch im Betroffenenverein drin!“ Antwort: „Ach, das glaube ich nicht, dass Th. M. Betroffener ist, der ist doch Germanist!“ Ich, lachend: „Was soll das denn heißen?! Ich bin Anglistin!“ Wir haben es weggelacht, auch ich – eine Realität, die eigentlich bitter ist.
Fazit und Ausblick:
Ich werde so ungeschützt wie dieses Mal auf keine solchen Tagungen mehr gehen. DAS (psychische und körperliche!) Leiden im Nachhinein ist ein zu hoher Preis für die dringend notwendige Aufklärungsarbeit im Bereich Psycho-und-Stigma-abbauen. Über emotionale Begleitung durch eine vertraute Person wäre evtl. nachzudenken. Oder am besten gleich die vom Museumsleiter anvisierte nächste Tagung in zwei Jahren in Bremen ausrichten? Als zentraler Punkt für EX-IN-Ausbildung könnte das für viele Menschen hier vor Ort von großem Interesse sein. Eine Frage, die im Ankündigungstext stand, wurde nämlich völlig vernachlässigt: „Wie tragen Psychiatriemuseen zu einem besseren Verständnis der bzw. für die Psychiatrie bei?“ Genau diese Frage würde jetzt gut mit EX-IN zusammen hier nach Bremen passen.
Heike Oldenburg
1Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen werden zu Dozent*innen und Genesungsbegleiter*innen ausgebildet und zertifiziert. Sie bringen im Sinne von „Vom Ich-Wissen zum Wir-Wissen“ ihre Erfahrungen ins Erwerbsarbeitsleben produktiv ein.
2Noch bis 1910 bekamen Europäer*innen in sogenannten „Völkerschauen“ Exot*innen aus den Kolonien vorgeführt, anschließend an die sogenannten „Freak Shows“, in denen schon lange Zeit missgebildete Menschen vorgeführt wurden. Aus dem Programmheft der Hagenbeckschen Schau «Die wilden Patagonier»:
«P. (äußere Beschreibung) Dieser biedere Herr, dem kein Mensch eine gewisse Würde, eine Würde, die mit Faulheit aus Neigung und natürlicher Veranlagung eine verzweifelte Ähnlichkeit hat, abzusprechen vermag, liess sein trautes Eheweib im rauhen Heimatlande zurück.» (vor 1900)