Am Abend vorher war ich in Darmstadt angekommen, am nächsten Morgen dann los zur Tagung „Endlich Selbstverständlich …“, der vierten ihrer Art. Die Tagung fand in dem großen Gasthaus „Goldner Löwe“ in Arheilgen im Norden Darmstadts statt. Vier lange Tischreihen füllten sich mit bis zu 110 Menschen. „Wir“ Betroffenen und Angehörigen waren wieder weitgehend unter uns, die Anzahl der Professionellen nicht herauszufinden – die erscheinen dort ja nicht klar erkennbar im Kittel. Das Programm war offen gestaltet, alles im Fluss, wie das Leben ist, wie auch der Obertitel „Psychiatrie im Wandel“ anzeigt. Im Flyer wurden die ReferentInnen mit Themen in der Reihenfolge ihres Auftritts angekündigt, dazwischen in weiß: „Mittagspause“. Das Kulturprogramm „für den besonderen Flair“ klappte durchweg reibungslos. Gleich zu Beginn wurden wir alle aufgeweckt von „Hand to Hand“, einer Trommelgruppe mit behinderten und nichtbehinderten Jugendlichen.
In ihrer Ankündigungsrede sprach Sylvia Kostera, die Initiatorin der Tagung, von „Rückschau, Innenschau und Vorausschau“. Das Neue sei nicht gleich wieder in feste Strukturen zu pressen, sondern es sei langfristig besser, Freiheit beim Entfalten zu gewähren. Die Opfer-Täter-Problematik als Thema – beides seien wir je in verschiedenen Phasen in unserem Leben einmal – ging leider im Laufe der Tage verloren.
Der Stadtrat Jochen Partsch, zugleich Sozialdezernent der Stadt, wünschte sich für die Zukunft einen Quadrolog, in den auch die interessierte Öffentlichkeit mit einbezogen würde. Als nächstes sprach Prof. Dr. Michaela Amering, Wien, über Stigmaresistenz, also wie Widerstandskräfte gegen Stigmatisierung zu entwickeln seien. Es sei sehr wichtig für die Zukunft, alle Beteiligten stärker dabei zu unterstützen, diese Kräfte zu entwickeln. Allein in Anbetracht der Vielzahl der Menschen, die in ihrem Leben mit der Psychiatrie in Berührung kommen, erscheint dies wichtig: 25 % aller Deutschen bekommen einmal im Leben eine Krise. Erfolge dieser Unterstützungs-Arbeit würden kaum kommuniziert. Soziale Diskriminierung laufe nach wie vor: keineR wolle eineN „Psycho“ als Kollegen oder gar als Babysitter haben!
Das erste Mal taucht die Frage auf, die sich für mich durch den ganzen Kongress zieht: Können/ sollen wir einfach immer nur weiter machen mit Antistigmaarbeit? Führt es wohin, und wenn, dann wann? Später wurde berichtet, dass die Antistigmakampagne in Kanada in den 1950er Jahren seinerzeit eher zu einer Verstärkung des Stigmas geführt habe. Andererseits kann mensch heute erzählen, dass sie/ er Krebs habe, das ging 1950 noch nicht. Also bringen Antistigmakampagnen dann schon etwas? Krebs ist eine körperlich Erkrankung und macht wahrscheinlich weniger Angst vor Identitätsverlust.
Das Konzept Resilienz wurde vorgestellt (daher wohl die „Resi“ im Titel der Veranstaltung?). Es bedeutet „selbstschützende Vorgehensweisen zur Überwindung von Stigma [zu] haben und pflegen“. Hilfreiche Umgehensweisen seien Coping (Bewältigung des Alltags) und Empowerment (nach außen gehen und andere stärken). Empowerment wirke stärkender für das Individuum. Bisherige Untersuchungen zeigten, dass Einzelbegleitung beim Selbstfinden wichtiger seien als Institutionen. Außerordentlich wichtig sei, sich den Stand zu erarbeiten: „Ich kann trotz meiner psychischen Beeinträchtigung ein erfülltes Leben führen.“ Offensives Auftreten (siehe Wowereit: „Ich bin schwul, und das ist gut so.“) sei besser als ein defensives Sich-geheim-Halten und Kontakte zu vermeiden. Ein großes Freundesumfeld sei widerstandsfördernd. Resilienz sei keine ungewöhnliche Fähigkeit, und sie könne schon im Kindergarten gelernt werden! Im Europäischen Aktionsplan von 2005 sei eines der benannten Ziele, nicht gegen die Krankheit, sondern für die Gesundheit aktiv zu sein. Dies erfordere, individuell wie gesellschaftlich achtsam mit vorhandenen Ressourcen umzugehen.
Nach Mittagspause und Gitarrenmusik kam Prof. Dr. Klaus Dörners Vortrag. Er stieg mit einem peinlichen Bekenntnis ein, nämlich dass er damals in seinem Bestseller „Irren ist menschlich“ im Titel nur die Betroffenen gemeint habe, nicht auch ein Irren-Können der Professionellen. Noch immer wachse die Zahl der Heimbewohner. Es würden einfach mehr Menschen um der Arbeitsplätze willen diagnostiziert und chronifiziert. Der Trend „ ambulant vor stationär“ seit 1980 sei in der Realität nicht genug umgesetzt, dies trage durchaus zum Markterhalt bei. Es gebe einen Akt der „Vermehrung der psychisch Kranken“, denn wer nicht per Diagnose krank erklärt werde, sei wenigstens präventionsbedürftig! „Täglich wird eine neue Begriffssau durchs Dorf getrieben.“ Damit würden neue Phänomene bzw. Ängste geschaffen. In der Schmerztherapie sei nachweisbar: Je differenzierter die Hilfeangebote seien, desto empfindsamer würden die Menschen für die je eigenen Schmerzen. Dabei gehörten Schicksalsschläge zum Leben, sie böten Chancen für Reifungsschritte, die anders als sie durch-lebend eben nicht zu haben seien. Durch das Rauben dieser Erlebnis- und Reifungsmöglichkeiten finde ein Infantilisierungsprozess in der Gesellschaft statt. „Wir Alten vermehren uns ja wie die Karnickel.“ Die Zahl der Demenzkranken über 93 Jahre überschreite die 50 %-Marke. Der Rest bleibe „pathologisch anders“, mensch könne zumindest beides als normal ansehen und das Menschenbild hier ändern …
Es wachse hingegen die Bereitschaft, sich für die Nöte anderer zu öffnen. Ganz kritisch wirkt folgendes: unsere Generation bemerke, dass 100 % Selbstbestimmung nicht machbar sei? Warum jedoch muss folglich eine „geringe Tagesdosis an Fremdbestimmung“ sein, warum der Einsatz für andere so genannt werden? Muss für andere da zu sein, zwingend Un-Selbstbestimmung sein? Was ist mit den Müttern? Und stimmt es, dass ein kultureller Wandel des Moments sei, sich verstärkt Bedeutung durch ein solches Tun für andere zu verschaffen?
Ein weiterer kultureller Wandel liege im Entstehen der Selbsthilfe-Kultur. Die Körperbehinderten haben um 1980 begonnen, die Psychos brauchten über zehn Jahre länger, um den Anfang zu finden. Als ExpertIn in eigener Sache/Peer in Vorleistung zu gehen, komme zu eineR zurück. Unprofessionelle Begleitung sei hilfreicher als professionelle. Es sei auf jeden Fall besser, als Gleich-BetroffeneR, als Peer Unsicherheit zu teilen, als das Gegenüber alleine zu lassen. Kürzlich war der Titel einer Fortbildungsveranstaltung für Professionelle in Berlin: „Hilflosigkeit als Ressource“.
Der zweite Tag
Am zweiten Tag war der Saal bei der Vorstellung des Windhorse-Projektes in Frankenthal sehr gut gefüllt. Die Grundhaltung der Achtsamkeit in einem psychiatriekritischen Projekt fasziniert sehr. Die seit dem Erscheinen des Films „Someone beside you“ verstärkten Anfragen im Projekt in Frankenthal seien nicht zu bewältigen. Jedes Projekt müsse vor Ort im eigenen Bundesland aktiv werden. Sylvia Kosteras Aussage in ihrem anschließenden Beitrag, dass sie froh über die Macht über den eigenen Körper und ihre sechs oder auch sieben Sinne sei, war allerdings mindestens ebenso beeindruckend. – Währenddessen ließ ich mich von einer geübten Künstlerin schminken, die, seit sie sich selbst einmal hat schminken lassen, immer vorher ansagt: „Jetzt gehe ich an die Stirn, mit etwas dünnerem Pinsel als eben.“ Soviel zu Peer-Dasein … Ich habe mir auf meinem Gesicht einen Van Gogh gewünscht, hat mit drei Sonnenblumen auf der Stirn fast geklappt …
Nach der Mittagspause führte uns der türkische Bauchtänzer Amir El Charrk wieder an unsere Sinne und in die Tagungs-Präsenz zurück. Wie gekonnt der seine Bauchwelle einsetzte – davon kann frau bei den meisten Männern nur träumen! – Susanne Heim, eine „trialogische Person“, die alle drei Perspektiven in der Psychiatrie seit 1961 selbst durchgemacht hatte, schwankte für mein Gefühl unangenehm stark zwischen Hoffnung und Resignation hin und her. Der Wandel sei da, aber eigentlich sei der Stand des Wissens so gut, dass wir es noch besser machen könnten. Gegen den beobachtbaren Rückschritt/Rollback empfahl sie: „Wir müssen etwas tun, sonst geht es nicht voran!“ Wieder die Entmutigung bei mir, eine alte Frage, wie schon an anderen Stellen: „Wo bleiben die ganz Jungen??“ Trotz eigener Müdigkeit sollten wir andere motivieren – das geht per se so nicht, mit müder Stimme motiviert mensch mit Sicherheit keineN! An unserem Tisch diskutierten wir, dass die Foren der 80er Jahre heute fehlen, die den Zusammenhalt leichter und deutlicher machten, die Demos in Gorleben etc. Die heute aktiven Jugendlichen fielen nicht mehr so auf: Wie können wir die verstärkt sichtbar machen? Und wer kann das machen? Bundesweit mehr Stark-Preise à la Heide Simonis in Schleswig-Holstein etablieren??
Der nächste Vortrag von Dr. Volkmar Aderholt „Weniger ist manchmal mehr – zur Notwendigkeit und Möglichkeit minimaler Anwendung von Neuroleptika“ überforderte sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Das Beruhigendste: Eine Episode bleibe in 70 % der Fälle auch ohne Neuroleptika einfach nur eine Episode und gehe meist ohne Medikamente weg. Nachweislich stelle ein schonender Ruheraum von vier Wochen während einer Krise einen Abbau relativ sicher. Nur: Wo will mensch sich den herzaubern? Sich zu hause versorgen lassen? In der Psychiatrie Ruhe finden? Geht das überhaupt? Der zunehmende Mix von Medikamenten zeige vor allem anderen die Hilflosigkeit der Ärzte. Schockierend die Aussagen zu vermehrten Anfälligkeiten für Diabetes, Herzkrankheiten und Mortalität. Die PatientInnen bezahlten die Rechnung, notwendige Studien würden bewusst nicht gemacht. Eine erschütternde Äußerung aus dem Publikum: „Ich sterbe hier langsam vor mich hin, und ich weiß nicht, was tun!“ Mensch solle dem Arzt eine Leitliniengerechte Behandlung vorschlagen und ihm hierzu jene Leitlinien unter die Nase halten. Später wurde aus dem Publikum von einer Professionelle an uns Betroffene die Aufforderung gerichtet: „Fordern Sie die Ärzte, Sie ernst zu nehmen!“
Der dritte Tag
Am dritten Tag berichtete die temperament- und humorvolle Hannelore Labentsch, leitende Oberärztin aus Bargfeld-Stegen, über das Gehirn und gezielte Umgehensweisen damit. Die Nervenzellen seien Spiegelneurone, die besonders bei der Liebe flackerten. Der Italiener Rizzolatti belegte, dass wenn ein Äffchen einem anderen beim glücklichen Genuss von Erdnüssen zusah, dieses Zugucken dieselben Zellen bei ihm als Gegenüber aktiviere. Die Trainierbarkeit von Lachen wurde hervorgehoben.
Im Behandlungsmodell in Bargfeld-Stegen stehe an oberster Stelle der „Schutz durch den sicheren Raum“ (vergleiche Aderholt). Es werde Hilfe bei der Gestaltung der eigenen Gefühle, der Selbstorganisation und der Ausführung des freien Willens gegeben. Es sei förderlich zu wissen, dass die Krankheit eineR nicht alles nehmen könne. Aber auch, dass Zeit zum Entwickeln wie bei Kindern, so auch bei Kranken nötig sei. – Es folgte die Textlesung einer Teilnehmerin über ihr Auftreten in der Darmstädter Schulprojekt-Gruppe, in der Jugendliche im Rahmen eines Projekttages mit Betroffenen und damit dem Anderssein konfrontiert werden.
Nach dem Mittagessen erfreute uns eine Theatergruppe von knapp 15 Betroffenen aus dem Suchtbereich. Diese war extrem lebendig! Zuerst spielten sie „Die Bremer Stadtmusikanten“, wobei der Esel eine Krücke hatte und der Hund blind war. Der Hund war ein sehr großer, schlaksiger Mann, der sich höchst interessant-unangepasst bewegte! – Anschließend berichtete Jörg Utschakowski von F.O.C.U.S. aus Bremen über das europäische EX-IN-Projekt. Das Wort komme von „Experienced Involvement“ und bedeute, Betroffene im psychiatrischen System als KollegInnen zu beteiligen. Das Konzept gebe es in den USA und England schon seit 20 Jahren, bei uns käme es gerade an. In den Niederlanden gebe es sogar eine gesetzliche Verpflichtung, einen Betroffenen in das Team hinein zu nehmen! Auch in Norwegen gebe es das Modell in fortgeschrittenem Stadium. Angestrebt sei, dass sich Betroffenen-Experten-Wissen mit Profi-Wissen verknüpfe, damit Bewältigungsmodelle gezielter genutzt werden könnten. Ich-Wissen solle zu Wir-Wissen werden, das Mit-Teilen von Erfahrung geübt werden. Es werden GenesungshelferInnen und Lehrkräfte ausgebildet, Öffentlichkeitsarbeit sei der dritte Schwerpunkt des Projektes. Über 50 % der bisher fertig ausgebildeten EX-IN´lerInnen haben Beschäftigung gefunden, und zwar sowohl überwiegend auf normalen Arbeitsplätzen in der ambulant-psychiatrischen Pflege, in Fortbildungsinstituten, im Betreuten Wohnen, im Qualitätsmanagement als auch vereinzelt in Reha-Krankenhäusern. Weitere näher zu untersuchende Punkte seien: a) „Welche Unterstützung braucht die/der Einzelne EX-IN´lerIn (Supervision)?“ und b) „Welche Unterstützung braucht das System?“ Auch die Dienste müssen für das Konzept vorbereitet und geöffnet werden. Hier finde – ein zweites Mal fällt der Begriff auf dieser Tagung – „kulturelle Veränderung“ statt.
Mit diesem für mich recht positiven Abschluss waren meine Kapazitäten erschöpft. Nach dem Vortrag spielte die Theatergruppe „Die Prinzessin auf der Erbse“. Da liefen lauter gekrönte Wesen als Prinzessinnen auf die Bühne! Eine nach der anderen wurde durchgetanzt (zu Rolling Stones die eine! Patti Smith die andere!) Und dann kam die „echte“ Prinzessin, stand vor dem Tor, „vom Regen und dem bösen Wetter durchnässt“. Dies wurde mit einer süßen, kleinen, roten Gießkanne angedeutet, aus der sie vom Erzähler im schwarzen Frack kurz über ihren Kopf begossen wurde! (Auf die Frage, woher sie kämen, antworteten sie: „Aus Psychosibirsk!“) – Der letzte Programmpinkt, der wieder fliegende Ikarus Kalle Pehe, Lehrer aus Bielefeld, war einfach zu viel für mich.
Die Tagung war sehr prall mit interessanten Inhalten, Haltungen, Menschen aus der ganzen Bundesrepublik und viel Spaß als Ausgleich gefüllt. Immer wieder wurden einzelne Beispiele von Krisenbewältigung in der großen Runde erzählt und gebührend beklatscht. Aber ob es besser mit Politik oder als Individuum oder in welcher Gruppierung mit der Suche weitergehen könnte, das stand öfter ungeklärt im Raume.
Die nächste Tagung dieser Art „Resi ist angekommen“ findet im nächsten Jahr vom 8.-10. September 2009 statt. Es sollen jährliche Tagungen folgen.
Heike Oldenburg