„Wahrnehmen, was wir empfinden“ – Elsa Gindler und das Selbst entwickeln mit Körperarbeit

In einem Brief schrieb Elsa Gindler Oktober 1911: „Nun, ich glaube, den richtigen Weg zu sehen und werde ihn beschreiten. Es ist ja im Leben schließlich alles ein Tasten, ob wir das Richtige finden? Wer weiß es?“ Sie hat die Entwicklung der gymnastischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wesentlich mitbestimmt. 1925 gründete sie den „Deutschen Gymnastikbund“ mit und blieb bis zu seiner Auflösung 1933 dessen stellvertretende Vorsitzende.

Elsa Gindler (1885-1961) wurde im Juni 1885 in Berlin als jüngstes von drei Geschwistern geboren. Ihr Vater war Schmied und Naturliebhaber. Die Mutter, schwer arbeitend, hatte viel Humor und Menschenverstand. Mit der sieben Jahre älteren Schwester Elisabeth liegt seit deren Heirat ein intensiver Briefwechsel vor.

Durch Fabrikarbeit, Haushaltshilfe und Aushilfe in einer Schneiderei finanzierte Elsa Gindler sich ab 1898 die Ausbildung als Kaufmann. 1902 entdeckte sie das Tanzen. Auf einem Ausflug mit den Eltern im Juni 1903 ins Umland zeigte sich bereits ihre sehr genaue, detaillierte Wahrnehmungsgabe, ihre offenen Augen für Natur und andere Menschen. Seit 1906 arbeitete Gindler in einem Büro als Buchhalterin. Abends holte sie die Allgemeinbildung in Volkshochschulen nach. Ihre Hauptinteressen waren Malerei, Musik und griechische Kultur. Daneben wurde sie als Mitklit im Vorstand des Tanzvereins „eine eifrige Pionierin der Körperbildung der Frau“ (O-Ton Gindler). In dieser Zeit heilte sie eine längere TBC-Erkrankung selbst durch gezielte Atemführung in den Lungen. Ihr Wissen für ihre Lehren setzte sich aus solch autodidaktisch erworbenen Kenntnissen und eine Ausbildung zur Gymnastiklehrerin zusammen. Ihr Erkenntnisinteresse war durch tiefe Neugier am Menschen geprägt.

Elsa Gindler lag daran, die sogenannte „schwedische Gymnastik“ aufzulockern, die aus Skandinavien kam und zur reinen Ertüchtigung der männlichen Jugend für Wehrzwecke diente. Sie wollte die Übungen den Bedürfnissen des weiblichen Körpers anpassen. Erste Schritte in diese Richtung hatten Bess Mensendieck und Hedwig Kallmeyer, zwei Gymnastiklehrerinnen, in Deutschland bereits unternommen. Sie führten die von Geneviève Stebbins ab 1880 in den USA entwickelte „Harmonische Gymnastik“ in Deutschland ein. Es handelte sich um ein geschlossenes System körperlicher Erziehung, wobei der Mensch innerlich verlebendigt und die Kräfte zu vollkommenster Form entfaltet werden sollten. Das Korsett sollte abgelegt werden. Bewegung, Vortrag, Stimme und Ausdruck wurden hierfür verbunden. Das Ziel war, die höheren Zusammenhänge mit Hilfe von drei Grundelementen zu erfassen: Diese sind Atmung, Spannung und Entspannung.

Zeitgleiche Bewegungen

Ein neuer Umgang mit bewusster Körperlichkeit lag allgemein in der Luft. Parallel zur „Harmonischen Gymnastik“ wurde 1904 von Isadora Duncan eine besondere Tanzschule in Berlin gegründet. Hier sollte harmonische Körperschönheit im klassisch-griechischen Sinne aus der natürlichen Gesetzmäßigkeit des Körpers heraus entstehen. Der Tanzpädagoge Rudolf von Laban betonte eher Improvisation und individuelle Gestaltung im Tanz. Klara Schlaffhorst und Hedwig Andersen lehrten in Rotenburg/Fulda Stimm- und Atemschulung. In der Loheland-Schule nach Steiner, Künzell/Fulda, wurden Körperbildung, Landbau und Handwerk verbunden. Auch ein Hinrich Medau war möglich, der die Grundlagen für die Deutsche Gymnastik schuf, die wiederum die Grundlage für die Gymnastikschule der Reichsjugendführung wurde. So sind auch die besten Ideen missbrauchbar.

Begegnung mit einem Musikpädagogen

Elsa Gindler arbeitete ab 1924 mit dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby zusammen, ab 1933 nach dessen Emigration in die Schweiz nur noch in Kursen während des Sommers. Es ging beiden vom je eigenen Fach aus um Sensibilisierung hin zu menschlicherer Qualität des Lebens. Sie wollten produktive Möglichkeiten lebendigen Seins und Handelns erschließen. Es sollten die natürlichen Anlagen noch nach dem Kindesalter entfaltet und die durch Erziehung erworbenen Verkrustungen aufgebrochen werden. Der Ansatz war geradezu therapeutisch: Die TänzerInnen sollten zur Selbstanalyse befähigt werden (wie in der Psychoanalyse) und damit alleine weitermachen können. Arbeit und Alltag sollten verbunden werden.

Bereits um 1925 entfernte Elsa Gindler sich von dem Begriff „Harmonische Gymnastik“. Es gibt die Bezeichnung „Arbeit am Menschen“, auch „Körperarbeit“, aber beide Begriffe sind nicht von ihr und greifen beide zu kurz für das, um das auszudrücken, was sie mit ihrer Arbeit erreichen wollte. Ihr Ziel war kein rein körperlicher Befreiungsakt. Sie wollte Menschen „erfahrbereit“ machen und zu deren Persönlichkeitsreife mitwirken. Wachheit, Pädagogik, Leben, Verantwortung waren zentrale Begriffe in Gindlers Lebensauffassung.

Elsa Gindler fragte 1931: „Wie können wir nur zur Ruhe kommen? Ich möchte immer wieder betonen, dass es sich für mich nicht um eine utopische, weltflüchtige Ruhe und `Harmonie` oder um ein Rezept zum besseren Ertragen der Weltmisere handelt, sondern dass diese Ruhe und Stille reagierbereiter, tatbereiter, erfolgreicher, vor allem wacher für ein Reagieren auf Zusammenhänge und überhaupt die Erkennung von Zusammenhängen macht. Sodass wir nicht immer am Symptom herum kurieren, wenn wir die Ursachen der Störungen beseitigen können.“ Weitere O-Töne: „Versuchszeiten wirken ins Leben hinein.“ – „Das Leben wartet nicht.“ Ankommen, in der Tätigkeit, im Tun war von großer Wichtigkeit für sie. Mit: „Hierin kann man den ganzen Tag unterwegs sein“ war etwas anderes als Pünktlich-Sein gemeint. Ankommen in einer Tätigkeit hieß, sie nicht „mit leeren Händen“ zu tun.

Elsa Gindler – mit ungewöhnlich kurzem Haar und Übergewicht, dennoch topp beweglich – gab Kommentare, bewertete jedoch nie in ihren Kursen. Erarbeiten musste sich jedeR der TeilnehmerInnen alles selbst. Die Menschen sollten sich von den Lebensprozessen tragen lassen lernen. Sie sollten sich in Beziehung setzen – zu sich selbst, zum Außen, mit Konzentration, erspüren, „wie es sein wollte“. Wenn es schwer war, sagte sie, es sei „wie trockenes Brot essen“. Die TeilnehmerInnen der Kurse (oft 15-30 Personen) machten keine vorgegebenen Übungen, sondern mussten ihre Übungen und Wege sozusagen selbst erfinden. Oft waren die Augen dabei verbunden. Sie konnten durch das bewusste Erleben ihres Gesamtzustandes, durch das einfach Einfachsein ihre Angst verlieren. Ihre Mitte sollte fühlbar sein. Mensch sollte gegenüber dem Körper gehorsam sein. Eine Übung war z.B., auf einem Besenstiel zu liegen. Mit einer anderen Übung reagierte sie auf die Verhaftungsgefahr unter den Nationalsozialisten: Wie kann mensch am besten sehr lange ohne Selbstschädigung stehen? (Verhaftete mussten oft die ganze erste Nacht im Stehen verbringen.)

Unter den Nazis (O-Ton: „Wer soll denn da etwas tun, wenn nicht wir!“) konnte mensch in ihrem Atelier in Schöneberg Stille und Geborgenheit erfahren. Gelassenheit und sogar Genussfähigkeit konnten hier mitten im Krieg gelernt werden. Sie nahm Juden zur Arbeit nur unter der Vorbedingung auf, dass sie hier keine Freundschaften anfangen. Das hätte ihre Arbeit gefährdet, denn sie versteckte auch Juden und andere Verfolgte und half, wo sie konnte. (O-Ton: „Dienen, ohne auf Verdienst aus zu sein.“)

In den letzten Tagen des Krieges wurde das Atelier mit sämtlichen bisher gesammelten Unterlagen zerbombt. Elsa Gindler musste ganz neu anfangen. Sie hatte im Krieg einen Herzklappenfehler erworben. Erst 1950 konnte sie mit ihrer Schülerin Sophie Ludwig ein neues Atelier in Berlin-Dahlem eröffnen.

Spätere Lehren mit Elementen aus Gindlers Vorarbeiten

SchülerInnen von Elsa Gindler haben weltweit Elemente in verschiedenen Graden umgesetzt und weiter vermittelt. Z.B. hat Moshé Feldenkrais 1949 in seinem Buch „Die Entdeckung des Selbstverständlichen“ Teile verarbeitet. Lily Ehrenfried ging nach Frankreich und verbreitete die „Gymnastique Holistique“ (Ganzheitliche Gymnastik). Cläre Natansohn heiratete Otto Fenichel, einen engen Freund Wilhelm Reichs, in dessen Gedankengebäude einzelnes mit verwoben ist. Frieda Goralewski setzte die Arbeit in Berlin mit einer großen Schülerschar fort. Sophie Ludwig tat desgleichen. Letztere hatte zudem die Nachlassverwaltung in der Hand. Sie hat u.a. bis zu ihrem Tod an dem Buch mitgearbeitet, welches den Titel für diesen Artikel gab. Elfriede Hengstenberg inspirierte Arbeit mit Kindern in Budapest. Carola Speads (Atmung) und Charlotte Selver (sensory awareness Erleben durch die Sinne) führten die Umsetzung der Ideen in den USA fort, wo es auch in die Theorien von Fromm und Pearls einfloss, und damit in die Humanistische Psychologie. Auch in Themenzentrierter Interaktion (TZI), in Konzentrativer Bewegungstherapie sowie in der Eutonie sind Einflüsse zu finden.

Bleibende Fragen

Wusste Elsa Gindler am Ende, ob sie auf dem richtigen Weg war? Sie starb 1961 mit 75 Jahren. Eine zu spät erfolgte Magenoperation (sie war aus Prinzip gegen Eingriffe dieser Art) drei Monate nach Beginn der Erkrankung half nicht mehr. Ein Jahr nach Elsa Gindlers Tod wurden in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel für sie als helfende Nichtjüdin ein Gedenkstein aufgestellt sowie ein Johannesbrotbaum gepflanzt. 1976 trafen sich auf Burg Rothenfels bei Würzburg 44 SchülerInnen und Schüler-SchülerInnen zum Austausch von Erinnerungen und Erfahrungen. Daraus entstand eine Dokumentation.

Die für uns weiterführende Frage ist und bleibt, wie durch mehr Nähe zum Selbst, zum körperlichen „Ich“ Veränderungen hergestellt werden können – im eigenen Leben, in den Verhältnissen, in den Strukturen. In welcher Weise stehen Bewegungen – innen, außen – in wechselseitiger Beziehung? Wie fest ist es darum herum in den Strukturen bestellt, wie fühlt es sich an? Sind sie aus Holz, aus Stahl gebaut? Was ist wie veränderbar?

Sicherlich haben die verschiedenen Arten von Körperarbeiten, die seit 1900 entwickelt wurden, sehr vielen Menschen geholfen, sich genauer im Verhältnis zu den Verhältnissen wahrzunehmen und sich direkter dazu zu verhalten. Aber im Grunde bleibt für jedeN von uns Gindlers Frage: „Es ist ja im Leben schließlich alles ein Tasten, ob wir das Richtige finden?“ zentral. Diese konstante Suchhaltung ist sehr förderlich für das Wohlbefinden, wenn mensch sich traut, sich auf den Weg zu machen. Das je Eigene ist zu suchen und zu finden – sozusagen immerzu. Sich sein Inneres zu erarbeiten und in Nähe zu sich und den Verhältnissen zu leben, bleibt auch heute niemensch erspart. Elsa Gindlers Tipp: „Behalten Sie Spaß am Leben und seinen sich immer verändernden Aufgaben.“ (Brief vom Sept. 1955)

Heike Oldenburg

August 2008

Quellen:

Elsa Gindler – von ihrem Leben und Wirken; „Wahrnehmen, was wir empfinden“, Textauswahl und Darstellung von Sophie Ludwig, Hrsg. Heinrich-Jacoby/ Elsa-Gindler-Stiftung, Bearb.: Marianne Haag, Hamburg 2002

Erinnerungen an Elsa Gindler, Berichte – Briefe – Gespräche mit Schülern, P. Zeitler-Verlag, 1991, 20002