„Ich war nie verrückt und ich bin es auch
heute nicht.“ Louise von Sachsen-Coburg
1904 schrieb der Publizist und Satiriker Karl Kraus im Aufsatz „Irrenhaus Österreich“ über die Internierung Louises von Coburg in der Psychiatrie in seiner Zeitschrift Die Fackel: „Ich halte diese Frau, deren gerechte Sache mir auch die Sympathie von Sensationsreportern nicht verekeln kann, nicht nur für vollsinnig, sondern nach den Interviews, die sie den Korrespondenten in die Feder diktiert hat (…), für einen Geist von seltener Frische und Festigkeit.“ Schon seit Jahrhunderten sind Frauen für unerwünschtes (Fehl-)Verhalten – zum Beispiel sich entgegen geltender höfischer Etikette zu frei zu bewegen – für nicht bei Sinnen erklärt und weggesperrt worden.
Louise Marie Amélie Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha, Prinzessin von Belgien, wurde im Februar 1858 als erstes Kind König Leopold´s II. von Belgien und seiner Frau Marie Henriette im Schloss Laeken nördlich von Brüssel geboren. Als Kind wurde sie vom Volke „Sonne Belgiens“ genannt. Sie war offenherzig, gradlinig-einfach, leidenschaftlich und sehr schön. Da sie Etikette ablehnte, wurde sie die „Rebellin“ in der Familie. Beim Spielen schlüpfte sie oft in die Rolle eines Knaben, war furchtbar wild. Ihr Lerneifer brachte ihr den Beinamen „Madame Pourquoi“1 ein. Sie liebte Künste, Musik, Bücher und sprach zwei Sprachen. Beim Reiten lernte sie von der Mutter Landkarten zu lesen. Sie wurde insgesamt früh zur Selbstständigkeit erzogen. Ihr „viel zu starke[r] Drang nach Unabhängigkeit“ machte sie sich wie „eine Gefangene“ fühlen. Die Kinder seien nach „den Muster der englischen Kinderstuben“ erzogen, die Spielzimmer „ähnelten eher den Zellen eines Klosters“. Ihre Familienerfahrungen seien „die traurigsten“ gewesen. Die Klage: „O wie beneidenswert sind doch die Mädchen, die nicht Königstöchter sind“, sie hätten ja freien Umgang mit selbstgewählten Wegen, führt deutlich Louises Illusionen über Freiheiten anderer Menschen vor.
Die Eltern werden sehr widersprüchlich beschrieben, stark idealisierend-schöngefärbt, aber auch realistisch. Die schöne und sehr gläubige Mutter habe den Pferden „Champagner, und in Rotwein getunktes Brot geben [lassen], damit sie lebendiger und feuriger wurden“. und es hieß, sie könne die Pferde „mit einem Wollfaden lenken“. Die Mutter habe neben „einem so selbstsicheren Mann“ nur Repräsentationspflichten erfüllt. Des Vaters „tiefes Sinnen und Schweigen“, verbunden mit dem „gleichmäßigen Schritt einer Maschine“, verschreckte Louise früh. Der Ehezwist der Eltern, des Königs unbegrenzte Arbeitszeit neben hemmungslos-wüstem Lebensstil habe alles freudlos gemacht. Leopold II. sei „weit mehr König als Vater“ gewesen. Diese Vorgabe – strenger Vater, weiche Mutter – scheint mir recht normal. „Die Königin und ich sind die unfreiwilligen Gefangenen eines Sonderlings, der nur im Banne seiner Idee lebt.“ Sie selbst sei „dem Wohle Belgiens geopfert“ worden, den Machtinteressen des Vaters sowie der Erinnerung der Mutter an ihre Heimat.
Hat nicht jeder Mensch ein gleich großes Recht auf Liebe? Mit 17 Jahren kam Louise an den größten Hof der Welt mit spanischer Etikette gepaart mit deutscher Disziplin! Die Brautnacht mit Prinz Philipp von Sachsen-Coburg und Gotha im Februar 1875 hinterließ die harmlos-unwissende junge Frau „befleckt und geschändet“, in ein Treibhaus fliehend. „Ekel“ gegen den Gatten beherrschte sie seitdem. „[E]ine schlechte Ehe bleibt überall und bei wem immer eine schlechte Ehe.“ Diese sei bei ihr „Urgrund“ für all ihr „Schuld und Fehl“. Louise wurde von Anfang an stark fremdbestimmt, mit fremder Kammerzofe, musste alles in Familienratsbeschlüssen bewilligen lassen, wurde mit viel Wein abgefüllt (oder auch stillgelegt?). Neben ihrem Wissensdrang wurde ihre Verschwendungssucht kritisiert. Es gab „Kälteschauer“ in Wien, wo alles alt, schäbig, traurig und ohne Blumen oder Komfort gewesen sei. Trotz wein- und rauschseliger Lebensweise des Gatten wurden 1878 und 1881 zwei Kinder geboren.
Der Hof – eine „unbeschreibliche Umgebung“
Louise berichtet viel Negatives auf aburteilend wirkende Weise über viele hochgestellte Personen. Die prinzlichen und königlichen Ehen mit Zwisten seien extrem viele!! Je höher man sozial steige, desto mehr Schändlichkeit und Eifersucht sei man ausgesetzt. Louise fand überall Verrückte: Philipps Bruder Ferdinand lege Séancen, Kaiser Wilhelm II. sei ein „Schandfleck eines mörderischen Wahnsinns“, dessen Größenwahn und durch ihn ausgelöste Verwirrungen das Verschwinden der mitteleuropäischen Throne ausgelöst habe. Ludwig II. sei ebenfalls „umnachtet“, dessen Sohn Ludwig III. noch schlimmer. Alles sei viel um Geld gegangen! Dabei Louise: „Geld ist eine Macht, und ich bin nur traurig, dass Menschen ihr bedingungslos untertan sind. – Geld veredelt nicht – es verdirbt den Charakter.“
Liebesleben
Nach zwei Liebeleien war Louise ab 1893 mit dem kroatischen Ulanenoberleutnant Graf Geza von Mattachich-Keglevich liiert. Im Frühjahr 1897, mit 30 (!) Jahren, war Louise „aus dem fürstlichen Käfig ausgebrochen“. Sie lebte mit Graf Geza auf großem Fuße und reiste quer durch Europa. Dies wurde durch viele Kredite ermöglicht, die immer flossen, da ihr Vater als reichster Monarch Europas galt. Sie rechtfertigte sich, es seien ja nur höchstens 10 Millionen gewesen … Eine Geldeinheit dahinter wurde schon nicht mehr genannt …. Kraus vermutet jedenfalls, dass später „den erlauchten Gemahl schäbiges Geldinteresse trieb – die Erwartung der belgischen Millionenerbschaft, die einer Geisteskranken nicht zufallen kann“.
Kaiser Franz Joseph verbannte Louise vom Hof. Die ganze Familie hatte sich abgewandt, Belgien zu betreten wurde ihr verboten. Ein Duell in Nizza zwischen Prinz Philipp und Graf Geza überlebten beide.
Sechs Jahre Intermezzo als „sittlich minderwertige Geisteskranke“ und Flucht
Neun Monate später im Dezember 1898 wurden Prinzessin Louise und Graf Geza in einem Hotel in einem Wiener Stadtteil festgenommen. Man versuchte, „die Richtung sexueller Triebe in legitime Bahnen zu lenken“. Geza wurden der Adelstitel und militärische Rang aberkannt sowie wegen Fälschung von Wechseln zu sechs Jahren Haft verurteilt. Louise fiel, vor die Wahl gestellt, diese leicht: lieber Irrenhaus als weiterhin Ehekerker. Eine „tendenziöse Irrenerklärung“ musste her. Mit der Dummheit von „unbestechlichen Psychiater[n]“ erkannten diese ein Irrsinnssymptom in Louises Untreue. Auch Kopfkratzen wurde als „psychisches Verfallszeichen“ gewertet, jedoch wenige Zeilen später auf Hautausschlag (Psoriasis) zurückgeführt. Peinlich für die Herren Gutachter …
Kraus dazu: „Als eines der auffallendsten Symptome aber müssen verheiratete Psychiater die »zunehmende, durch nichts motivierte Abneigung gegen den Prinz-Gemahl« bezeichnen. Und „daß der Prinzessin »ein Oberleutnant« besser gefällt als ein Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha, ist in den Augen der Wiener medizinischen Fakultät vollends eine Anomalie, die die Entmündigung und Internierung der Kranken notwendig macht.“ Die Presse stieß in dasselbe entwürdigende Horn: »der Leutnant Mattassich [sei der Prinzessin] im Prater durch Schenkelkraft und stramme Männlichkeit aufgefallen«. Hier wird „das Selbstbestimmungsrecht weiblicher Sinne aufgehoben, die Anmut der Menschheit verkrüppelt“.
Über mehrere Irrenhäuser kam Louise schließlich zu Dr. Pierson im Sanatorium Lindenhof in Koswig, Sachsen. Trotz relativ abgesondertem Pavillon, Kutschengespann, Kammerfrauen und Gesellschaftsdame: „Mein Käfig hatte vergoldete Stäbe. (…) Es war ein Lebendigbegrabensein“. Der Lindenwucherer2 hat sich jedenfalls aus den Einnahmen aus ihrem ´Fall´ „sein Etablissement vergrößert und verschönert“. Louise durfte die einsamen Wälder aufsuchen, „freilich nur von einem Heer Irrenwärtern beiderlei Geschlechts begleitet“. Das Mitgefühl des Personals sowie vieler Ärzte im direkten Kontakt habe ihr gut getan. Louise lässt sich zu der Äußerung hinreißen: „Es läßt sich nicht ermessen, welches Energieaufwandes es bedurfte, um unter Wahnsinnigen den Verstand nicht zu verlieren; denn der stete Verkehr mit Wahnsinnigen wirkt ansteckend.“ Ob sie den Wahnsinn des „Wächter(s) vom Lindenhof“3 meinte?
Als 1902 die Sozialisten den Militärjustizmord an Graf Geza im Reichsrat anprangerten und damit seine Freisetzung erwirkten, war das erste Sinnen des Grafen die Rettung seiner „[a]us Staatsraison“ verrückten Prinzessin. Mit einer Broschüre empörte er die Presse erfolgreich. In aufregender Weise gelang Ende 1904 die Flucht aus Bad Elster in den Bergen, wo Louise zur Kur weilte. In Frankreich wurde im Mai 1905 ein Gegengutachten von zwei Psychiater verfasst. Dieses führte zur Aufhebung der Vormundschaft in Wien im Juni 1905. Als Louise 1907 in Gotha geschieden worden war, erhielt sie den Titel einer belgischen Prinzessin zurück.
Zwar wähnte Louise gleich nach der Flucht, dass ihr der Verstand wiedergegeben sei. Doch Louise war nicht davor gerettet, in ständiger Bewegung, getrieben und viel reisend zu bleiben. „[W]ie der ewige Jude herumirren zu müssen“, war sehr erschöpfend und brachte sie nahezu an das „Ende meiner Kräfte“.
Monarchie oder Sozialismus?
Prinzessin Louise hätte sich ihr Leben gerne anders eingerichtet. Sie habe „die Gemeinheit einer würdelosen Aristokratie kennengelernt“, aber auch sei sie „beglückt worden durch die vornehme Rücksicht von Menschen aus dem Volk, und meiner Dankbarkeit diesen gegenüber will ich vor allem Ausdruck geben.“ Die öffentliche Meinung sei „instinktiv“ gegen ihre Internierung gewesen. Ihre Dienerinnen hätten ausnahmslos und immer zu ihr gestanden. Je mehr man sich dem Volke annähere, desto eher sehe man, wo das kleine Glück zu finden sei.
„Ich bin ja selbst ein Opfer der Uebergriffe einer monarchistischen Macht, die an der Verderbtheit ihrer Höflichkeit zerschellte.“ Daher ist sie absolut dankbar gegenüber der Regierung der Republik, die gerechte Gesetze habe, die auch auf Prinzessinnen angewandt werden! Dennoch werde die Demokratie wegen ihrer Betonung der Einzelwesen ihrem Ende zugehen. Der Lauf der Welt sei, dass die Monarchie wie eine Familie aufgebaut sei, und dass die Demokratie der Monarchie wieder Raum geben müsse.
Nach Leopold II. Tod 1909 habe Belgien die Königskinder nicht gerecht ausgezahlt. Später gab es bei wachsendem Schuldenstand erneute Versuche, Louise unter Vormundschaft zu stellen. Es änderte sich wenig an ihrem Lebensstil, bis Mattachich im Sommer 1916 in ein Internierungslager bei Budapest kam. Prinzessin Louise floh ebenfalls nach Ungarn. 1919 dort wegen angeblicher Spionage zum Tode verurteilt, wurde sie im allerletzten Moment begnadigt. Sie begegnete Mattachich in Wien wieder. Beide gingen nach Paris, wo Mattachich 1923 starb. Die Prinzessin ließ ihn auf dem berühmten Friedhof Père Lachaise begraben. Anschließend reiste Louise mit wenigen Getreuen weiter in Deutschland umher, ihr Lebensstil blieb noch immer gleich. 1924 starb Louise völlig verarmt mit 66 Jahren in Wiesbaden an einer Venen- und Lungenentzündung und wurde dort begraben.
Resümee
Die Memoiren der Prinzessin von Coburg wurden 1921 auf englisch publiziert und erschienen auf deutsch 1925 (21926). Laut der Übersetzerin seien sie ein unmittelbarer und freimütiger Bericht. Einiges ist durch Fußnoten aus Mattachichs Memoiren (1904) ergänzt.
Das Buch wirkt auf mich wie eine einzige große Anklage, obwohl Louise immer wieder das Gegenteil betonte. „Jeder Mensch hat seine Fähigkeiten, sein Schicksal und seine Chancen sind ihm bestimmt.“ Sie nannte das Schicksal „Bestimmung und unserem Willen entrückt“. Ob das Schreiben für Louise selbstreinigend war? Es scheint mir nicht, denn Louise litt beim Schreiben, bekam Schwindel etc. Sie fragt: „Was habe ich denn verbrochen?“
Wenn wir mit heutigen Denkkategorien an dies Leben herangehen, so war Recovery, ein Genesungsprozess, nicht durchführbar, denn Bedürfnisangepasste Behandlung ist in einer Unterdrückungssituation gar nicht angedacht. Auch die Flucht ermöglichte keinen anschließenden Ruhe- oder Pausenraum für Genesung. Hingegen Resilienz im Sinne von Widerstandsfähigkeit ist in ihrer „Beharrlichkeit [zu finden], mit der die Prinzessin an ihre geistige Gesundheit und die Unschuld des Geliebten glaubt.“ Für die Gutachter war dies hingegen „das bedenklichste Symptom geistiger Entartung“. Aber für diese Herren ist ja auch sowohl ihre Ruhe als auch Erregung gleich krankhaftes Symptom! Auch „kluge Selbstbeherrschung“ gehörte zu Louises Fähigkeiten, mit denen sie ihr Empowerment, ihre Selbstermächtigung in Form der Flucht, plante und durchführte. Und diese führte zu Inklusion, zum Dazugehören zur Gemeinschaft, Teilhabe am Alltag. Auch nachdem Louise die Psychiatrie überlebt hatte, konnte sie ihre eigene Welt jedoch nicht nach ihren eigenen Wünschen gestalten, „die Königin in meiner Welt sein!“
„Heute wäre es unmöglich, Empörung als Wahnsinn auszulegen; unmöglich, einen Skandal zu provozieren, wenn das Opfer um Hilfe ruft!“ schrieb Prinzessin von Coburg 1921. Ein Wunschtraum (oder auch Illusion?) … Noch heute – fast 100 Jahre später – kann ein psychiatrisierter Mensch leider ganz umsonst nach Hilfe schreien!
Heike Oldenburg
März 2015
Quellen:
Erika Bestenreiner, Die Frauen aus dem Hause Coburg, München 2008
Prinzessin Louise von Coburg geb. Prinzessin von Belgien, Throne, die ich stürzen sah, Wien, Taschenbuch – 1. Januar 1926 (11925)
Karl Kraus, „Irrenhaus Österreich“ in: Die Fackel, Nr. 166, VI. Jahr, Wien, 6. Oktober 1904
Wikipedia
1Fräulein Warum
2Dr. Pierson
3Dr. Pierson