Königin Anne Boleyn, Gattin von Heinrich VIII. und Mutter einer später berühmten Tochter

Die Sitten an Königshöfen waren bis nach der Renaissance nach 1600 hart. Bigotterie, Pflichtgefühl, Religiosität und Etikette waren die bestimmenden Faktoren am Hofe. Ein Menschenleben zählte nicht viel, Pranger und Mord blieben bis nach 1800 üblich. Eine junge Frau widersetzte sich jedoch der üblichen Mätressenwirtschaft der Zeit. Sie ließ sich heiraten, bevor sie sich hingab.

Anne Boleyn war eine Kammerzofe Katharina von Aragons, der Gattin Heinrichs VIII. Beide Königinnen wurden Opfer der sie umgebenden „ablist“ Kultur. „Ablist“ bedeutet, „körperlich und geistig fähig“ sein zu müssen. Königinnen mussten die Pflicht des Königs, gesunde Nachkommen zu produzieren, auf ihren Schultern austragen. Gesunde Töchter genügten den patriarchalischen Wertvorstellungen am Hofe nicht. Mangel an brauchbaren Söhnen war katastrophal.

Der Druck, einen Sohn zu bekommen, wirkte behindernd: Nach pompösem Anfang folgten bei beiden Königinnen die Enttäuschung über nicht brauchbare Geburten, die Isolation und der Tod. Beide bekamen „nur“ ein gesundes Mädchen. Sie wurden für ihren Zustand verantwortlich gemacht und verstoßen. Verschlimmert wurde die Situation durch das illegitime Kind einer Mätresse, dem bereits 1519 geborenen Henry Fitzroy. Damit war der Beweis der Söhneschaffenden Kompetenz in Heinrich VIII. bewiesen.

Geboren um 1501, war Anne Boleyn von 1533 bis 1536 die zweite Ehefrau Heinrichs VIII. und Königin von England. Anne wurde von Shakespeare in dem Drama „Heinrich VIII.“ als „able-bodied“ („körperlich fähig“) dargestellt: „ausdrucksstark drapiert vor der englischen Öffentlichkeit“ sitzt sie auf „reichem Stuhl des Staates, frei ihre Schönheit dem Volke präsentierend“. Sie hat „das süßeste Gesicht, das je besehen wurde“. Vier Barone legten ein „Tuch der Ehre über sie“. Anzeichen für eine nur kurze Regierungszeit sind Bezeichnungen wie „ein Engel“ oder wie „eine Heilige [wie sie] ihre hellen Augen zum Himmel gerichtet,/und devot betend“ beschrieben ist. Sie wird von Shakespeare in dem Drama zur großen Hoffnung der Monarchie stilisiert: „[V]on dieser Dame mag ein Edelstein ausgehen/ die ganze Insel zu erleuchten“. Die schwere Geburt der Tochter Elizabeth bringt Anne fast um. Doch ihr Überleben wird nicht wertgeschätzt. Ihre Mutterrolle wird sprachlich weggewischt, indem Heinrich über das Baby erzählt wird: „(Es) ist wie du/wie eine Kirsche zur nächsten Kirsche.“

Nach Elizabeth hatte Anne mehrere Fehlgeburten. Hohe Kindersterblichkeit kam noch dazu. Anne wurde, als Heinrich VIII. sich neu verliebt hatte, des Verrats, des Ehebruchs und des Inzests bezichtigt. Ein weitere Anklage war Hexerei. Dafür hielt die Tatsache her, dass sie an einer Hand sechs Finger hatte. Ihre „monströse Erscheinung“ zeige ihre Hexenkraft, mit der sie den König verzaubert habe sowie die Fehlgeburten herbeigeführt habe.

Früher glaubte mensch, es sei „der Uterus, nicht der Samen, der das Geschlecht endgültig festlegt“. Von daher schien das Handeln einer Frau, ja, schon ihre Phantasie für das Geschehen im Bauch verantwortlich. Der englische Arzt Nicholas Culpeper in seinem Buch „Ein Lehrbuch für Hebammen“: „Dein Kind wird aus deinem eigenen Blut genährt, richtig gemacht oder verdorben von deinen Taten, Faulheit, Schlaf oder Wachsein“. Alles Abnorme wurde als Anzeiger für unmoralisches Sein genommen.

In jüngster Zeit erweisen sich Forschungen zum weiblichen mütterlichen Körperkonzept als erstaunlich parallel mit frühen Studien von behinderten Körpern. Z.B. wurde der unordentliche weibliche Körper als verseucht wahrgenommen. Die Gebärmutter scheint „potenziell monströs“. Sie müsse ständig überwacht werden, da sie über sich selbst hinauswächst, ihre eigenen Grenzen überschreitet. Insofern scheinen der schwangere Körper, genauso wie der behinderte, unfähig, sich zu kontrollieren und wirken angstauslösend. Anne Boleyn wird als Trägerin einer behinderten Gebärmutter dargestellt. Die Gerüchte um angebliche Liebschaften inkl. einer inzestuösen mit dem Bruder waren nur zu bekannt. Ihr eigenes Verhalten schien mehr als deutlich zu machen, dass sie keinen Sohn gebären konnte.

Anne Boleyn wurde im Mai 1536 geköpft. Ihre Tochter Elizabeth, später selbst Königin, ließ Anne Boleyn als Heldin vergöttern.

Heike Oldenburg

November 10