Tagung „endlich selbstverständlich … – Resi reist zum Regenbogen“ im November 2012

Ich möchte über eine Tagung berichten, an der ich in der zweiten November-Woche 2012 wahrgenommen habe. Tim und ich sind nach Darmstadt-Arheilgen gefahren und haben uns für drei Nächte ein Hotel genommen. Wir waren im K&M-Hotel direkt gegenüber vom Veranstaltungs-Saal. So konnte ich meinen Rollator im Hotel lassen und wir konnten zudem morgens lange genug ruhen. Die Tagungsgebühr (20 € pro Person) sowie die Bahnfahrt (69 €) zahlte uns die Selbsthilfegruppe als Fortbildung. Wir waren den zweiten und den dritten Tag da. Beim Ankommen habe ich den Löwenplatz mit dem Saal „Zum goldnen Löwen“ zuerst gar nicht wiedererkannt, weil er nun fertig gebaut ist, komplett mit Blindenleitzonen versehen. Und er erschien mir so klein! Aber er war´s!

Die Tagungsreihe heißt „endlich selbstverständlich … – Resi reist zum Regenbogen“ (Resi = kurz für Resilienz = Widerstandsfähigkeit). Die Tagungen finden seit 2003 2-jährlich und seit 2007 jährlich im Saal „Zum goldnen Löwen“ in Darmstadt-Arheilgen (http://mw2.google.com/mw-panoramio/photos/medium/9249996.jpg) statt. Dieses Jahr war das Thema „Wandlung – Utopien – Alternativen“. Leider ist vor einem halben Jahr die Hauptaktivistin Sylvia Kostera gestorben. Es ist fraglich, ob und wann eine solche Tagung wieder stattfinden wird. Sylvia hat ihren Referent_innen immer sehr viel inhaltlichen Raum gelassen. Sie konnten ganz frei erzählen, was sie aktuell bewegt, nachdem sie gemeinsam den Titel entwickelt hatten. Die Tagung war diesmal nicht so überquirlend-lebendig-viel besucht, da die Werbung recht spät losging. Die Orga-Gruppe war sich unsicher, ob sie es hinbekommen. Aber es gelang gut!!

Der Dienstag, 13. November 2012

Am ersten Tag war Prof. Dr. med. Dr. phil. K. Dörner aus Hamburg da (Mitautor von „Irren ist menschlich“, 1984). Ich war recht froh, diesen Auftritt verpasst zu haben, denn als er auf der Tagung vor vier Jahren referierte, wurde er so unangenehm angehimmelt und es hat ihm so gut gefallen! Das war mir so ungemütlich, dieses Koryphäen-Phänomen im Alter … Nachmittags wurden Thai Chi und Qigong vorgestellt; das kannten wir schon, Tim besser als ich. Daher nutzten wir diesen Tag für die 5-stündige Anreise.

Der Mittwoch, 14. November 2012

Der zweite Tag – unser erster – begann mit der betrüblichen Mitteilung, dass das Ehepaar Helene und Hubert Beitler mit dem interessanten Titel „Zusammen wachsen – sich trennen kann jeder“ aufgrund ihrer erneuten Erkrankung nicht kommen könnte. Es wäre um Psychose aus Sicht einer Betroffenen und eines Angehörigen gegangen. Auch Ingrid Weber, die für den nächsten Vortrag mit angekündigt war, musste Zuhause bleiben. Jedoch ihr Gatte Stephan Schwartz konnte uns zum Glück über das gemeinsame Projekt „Krisenfreunde“ berichten: die Integrale MitWohnGemeinschaft für Menschen in TransformationsKrisen, ein soziales Experiment. Motto: Wege entstehen beim Gehen.

Ingrid und Stephan hatten schon vorher in einer großen Gemeinschaft mit über 100 Menschen (wohl in Bhagwan-Nähe?) gelebt. Ingrid hatte auf einem Spaziergang die Vision, einen Hof als therapiefreien Raum zum Leben von spirituellen Krisen zu eröffnen. Bundesweit suchten sie ein Haus zum Kauf. Es wurde dieser Miethof, Hof Beutzen bei Hermannsburg in der Lüneburger Heide (40 km östlich von Walsrode). Es gibt nur fünf Häuser, die Nachbarn sind wohlgesonnen und nicht „komisch“, da hier bereits über Jahrzehnte eine evangelische Geschwisterschaft gewohnt hatte.

Es handelt sich um ein Pilotprojekt. Schon öfter hat Stephan von einzelnen Menschen gehört, die andere Menschen während deren Krisen bei sich aufnehmen und in ähnlichem Sinne versorgen.

Stephan arbeitet als Schauspieler und stellt im wesentlichen das Geld für die Lebensgemeinschaft. Es handelt sich nicht um ein Geschäftsmodell, sondern um eine rein private Sache ohne Verein o.ä. Weder Wirtschaftsplan noch Entwicklungsplan gibt es. Das Projekt entwickelt sich selbst, sie wissen nicht, wo es in drei Jahren sein wird. Es leben fünf feste Mitglieder und bis zu drei Gäste auf dem Hof. Gemüseanbau auf einem naheliegenden Acker ist möglich, was sehr gesund für unsereins ist. Die Gäste bleiben ein paar Tage oder auch einige Wochen. Sie zahlen 25 € pro Tag Unkostenbeitrag, wenn sie Geld haben: 35 €, um das Projekt zu fördern. Es gibt einen Spendentopf. Auch ein Worker-Programm für Zahlungsunfähige gibt es hin und wieder, also leben gegen arbeiten im Projekt. In den 1,5 Jahre seit Beginn waren bereits über 100 Gäste zu Besuch. Sie halten es für ein Projekt der Zukunft, das von noch vielen aufgegriffen und nachgeahmt werden wird, sobald Grundeinkommen eingeführt wird.

Stephan, der als Pragmatiker die Büroarbeit macht, führt die Erstgespräche für die Auswahl, dann Ingrid ein längeres Vorgespräch. Entschieden wird über den Besuch in der Gruppe. Erwartet wird Bereitschaft, sich einzulassen und zu öffnen. Ingrid ist ausgebildete Körpertherapeutin und Psychotherapeutin. Sie – mit der tragenden spirituellen Sicht im Projekt – hat etwas wie Epilepsie oder Parkinson, sie hat eine starke Energie im Körper und lebt diese Krisen einfach. Stephan setzt sich hinter sie und beruhigt durch Anwesenheit. Die Anfälle sieht sie als Höhepunkte einer Wandlung, die Schmerzen drücken den Wunsch nach bonding (= Bindung) aus und werden positiv gewertet.

Es wird jeden Morgen um 9.30 Uhr ein Sharing gemacht, in dem jeder einem der anderen fünf Minuten lang erzählt, wie es ihr/ihm geht. Alles wird den Tag über in dem Moment, wo es passiert, offen gemacht. Es wird abwechselnd gekocht, und zwar Bio-Gourmet-Küche. Fünf Minuten nach dem Gong fürs Mittagessen stellt der Koch sein Essen vor. Es gibt ein Tischgebet. Zwei Riesen-Couchsofas als Kuschelecke sind vorhanden, doch weder Fernsehen noch Musikgeräte. Im Haus hat es Ölheizung. Das Projekt ist landschaftlich total schön gelegen, mit Bach und Acker nahebei.

Nähe ist in den Beziehungen und zu sich selbst wichtig. Therapie findet nicht statt, aber so etwas wie Freundschaft, im Sinne von Zuwendung (siehe griech. therapeia „das Dienen, die Pflege der Kranken“). Nur einmal habe es einen Mann gegeben, der Massage und Wellnesshotel erwartete, und einmal eine Frau, die in eine Psychose glitt, nicht mehr erreichbar war und von Stephan nach Hause gefahren werden musste. Mensch orientiert sich an Walter Lechler „Von mir aus nennt es Wahnsinn, Bericht einer Heilung“, in dem mit Liebe zu heilen statt mit Medikamenten beschrieben wird. (Paracelsius: „Der Arzneien höchste ist die Liebe.“) Transformationskrisen sollen im Kundalini-Prozess durchlebt werden. Kundalini ist ein Wort aus dem Indischen, wir kannten hier solche Phänomene früher auch (Hildegard von Bingen). Es gibt ein Kraftzentrum in der Wirbelsäule, das ein Stimulanzium für Körperenergien ist. Kundalini-Yoga, das das wecken kann, kann zu sehr starken Reaktionen führen. Im Bewusstwerdungsprozess finde Aufweckung statt. Ein weltweiter Aufweckungssprung stehe unmittelbar bevor, die Kundalini-Energie feuere diesen an.

Wer ankommt, muss einen Haftungsausschluss unterschreiben. JedeR bleibt für sich selbst verantwortlich. Mit hohen Medikamentendosen kann man nicht zu Gast sein. Zu erreichen unter www.krisenfreun.de1

Vor (oder nach?) dem Mittagessen (Chili con carne ohne Fleisch) kam die wunderbare Ute Leuner zu uns. Sie tanzte und sang für uns einige Lieder aus ihrem neuen Programm Papageienexpress. Es gefiel mir, wie sie sich drehte und zeigte und „beichtete“, sie würde auch lieber drei als zehn Fettröllchen haben, aber: „Für eine Diät ist es zu spät.“ (Songtitel) Utes helle Stimme kletterte sehr hoch hinauf und erfrischte. Auf dem Tisch lag ein Gedichtband, der kopfüber „genommen“ werden muss – trotz falscher Einbindung zum Angebot. Das Cover und sie – alles ist total farbenfroh! Siehe www.uteleuner.de (Dort steht, dass sie schon Theaterkurse für psychisch Betroffene wie für geistig Behinderte geleitet hat.)

Nach der Mittagspause kam der lange und anstrengende Vortrag von Privatdozent Dr. med. Martin Heinze, Berlin dran: „Soziale Psychiatrie – theoretische und praktische Aspekte“.

Mit dem berühmten Satz „Psychiatrie ist soziale Psychiatrie oder sie ist keine Psychiatrie.“ hat Dörner den Psychiater Max Fischer von 1919 zitiert. Weitere historische, sozialpsychiatrisch relevante Namen werden angeführt: Griesinger, der für Hausbesuche (ohne einen solchen könne man gar nicht therapieren), eine Sozialanamnese und kurze Aufenthalte war, weiterhin Bleuler, den Leiter von Burghölzli, Zürich, und Maxwell Jones, der in den 1940er Jahren in Großbritannien die „Therapeutische Gemeinschaft“ entwickelte. Die „freie Assoziation einzelner“ als Begriff für Gemeinschaft komme von Marx. (Sie basiere auf einem total christlichen Grundgedanken.) Die Antipsychiatrie entstand nach 1968. Dörners Sprache 1971 sei sozialistisch gewesen. In den 70er Jahren sei die Bewegung mehr politisch getragen gewesen. Heute sei die Enthospitalisierung zu einem Stillstand gekommen, es fiel der Begriff „Graue Psychiatrie“ (was?von wem?). Das Glas sei maximal halb voll.

2007 wurde in einer Studie ein schlechter Befund festgestellt, nämlich dass 40 Jahre nach der Psychiatrie-Enquête von 1975 immer noch eine sehr hohe Bettenzahl vorhanden sei. In Finnland stellten Virtanen et al. Int J Epiderm bereits 2003 fest, dass die Zahl der behandelten Arbeitslosen doppelt so hoch sei wie die der behandelten Arbeitenden. In einer eigenen Studie von Heinze waren ganze 6 % der Behandelten im Arbeitsleben. Psychiater seien heutzutage blind auf dem sozialen Auge. Mehr als 50 % der psychiatrisch Behandelten käme von weiter als 20 km vom Krankenhaus weit entfernther . Es finde eine Entkoppelung von Versorgungs- und Universitätspsychiatrie statt (Bedeutung?). Auch seien Fachärzte für Psychiatrie am schlechtesten bezahlt. Fragen wie: Wo kann ich Geld verdienen? Wie kann ich die Effizienz am besten steigern? seien zu relevant. Der sich verschärfende Kapitalismus sei schlecht für die psychisch Kranken. Die Seele brauche 15 Minuten zum Ankommen, aber dann sei die Zeit des Psychiaters auch schon wieder vorbei.

Es gebe innerhalb der Psychiatrie heute keine Diskussion mehr darüber, wie (solidarisch) unsere Gesellschaft strukturiert werden soll (könnte). Die guten neuen Konzepte der 20er Jahre (z.B. Anthropologie) seien nicht in die Psychiatrie eingeflossen. Bei Binswanger in der Privatklinik seien nur Reiche gewesen. Man habe lieber alles als individuelle Probleme gesehen und die sozialen Kontexte weggelassen. Intersubjektivität als Konzept fehle, habe nicht Fuß gefasst. Die eher konservative Welt, die da behandeln soll, helfe uns heute nicht mehr. Erich Wulff (1926-2010) hat nach seiner Ausbildung Lehrjahre in Vietnam (Lehrauftrag 1961 bis 67) verbracht und sagte weise: “Wir müssen von unserer politischen Erfahrung her denken und arbeiten.“

Soziale Eingebundenheit und individuelle Freiheit sind ganz schwer zusammen zu denken. Wolfgang Blankenburg (1926-2002) stellte fest: „Auf das Können oder Nichtkönnen kommt es an. Freiheit heißt hier Können.“ Mensch müsse nach dem Festgefahrensein der PatientIn gucken, und wie mensch ihm da raus helfen könne. Blankenburg: Mensch müsse die Abweichung akzeptieren, die Symptome positiv sehen können und lernen, was er/sie damit/daraus machen könne. Das müsse zu einer Leitlinie für die Praxis führen, die Freiheit von … ermögliche, aber vor allem Freiheit für …!!! Passende Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden. Auch die soziale Einbindung sei wichtig, sie bilde die Voraussetzung dafür, wirklich Freiheit zu entwickeln. Wir müssen die Patienten nach der eigenen gefühlten Gestaltungsfreiheit fragen. Alle Beteiligten müssen sich bewusst sein, wie „schwer“ es sei, Freiheit zu leben. Wir brauchen dafür vor allem

a) soziale Räume und

b) ausreichende Zeiträume.

Auch Patientenrechte seien nur in bestimmten Bedingungen (Freiheit für …) durchsetzbar. Auch innerhalb der Psychiatrie muss über die Räume nachgedacht und gesprochen werden, es brauche wieder einen politischen Raum in der Psychiatrie. Personenzentriertheit sei als Schlagwort zwar vorhanden, jedoch werde sie real nicht gelebt. Die Ausgrenzung von PsychiatriepatientInnen sei seit 40 Jahren alter Toback, aber diese alten Fragen seien noch immer total aktuell. PsychiaterInnen seien zu wenig selbstkritisch, sie bräuchten eine philosophische Diskussion. Abschließende Frage: Sind PsychiaterInnen dumm? Nein, sie brauchen einfach das Geld und haben selber Ideenmangel, sind auch im System drin und gefangen.

Eine Zwischenbemerkung aus dem Publikum war: Die jungen Ärzte seien in Zeiten von Facebook viel unvorsichtiger damit, Daten in den PC zu schreiben. In der alten Generation würde damit viel vorsichtiger umgegangen, sie haben noch die Folgen in der Nazizeit im Kopf.

Als gelungener Abschluss des Tagesprogramms erzählte uns die Selbsthilfeaktivistin Bärbel Lorenz aus Köln:. „Entspanntsein kann man lernen.“ Wir können auf unseren Stoffwechsel und damit auf unseren Gehirnzustand Einfluss nehmen. Entspannungsübungen führen zu Serotoninausschüttung.

Schlafen tun wir bei 0-8 Hz. Die Alpha-Welle bei 8-13 Hertz sei der hellwache Zustand bei leichter Entspannung mit noch geschlossenen Augen. Beta sei bei 13-30 Hz (Wachzustand), Gamma sei über 30 Hz (Konzentration und komplexe Zusammenhänge verarbeiten).

Einige Tipps: Schwirrende Gedanken kann mensch mit langsamem Ausatmen ausatmen. Mensch kann eine Imaginäre Dusche nehmen, mit Warmwasser oder eine Farbdusche. (Publikum: Da spart man Strom und Duschgel.) Eine 15 Min.-Baummeditation sei gut, könne mensch sich selbst auf CD oder Kassette aufsprechen. Oder einen Imaginären Inneren Entspannungsort aufsuchen, dort bleiben und ausruhen. Wenn Ruhe erreicht ist, kann sie verankert werden (NLP): Zeigefinger auf den Daumennagel legen. Wenn das automatisiert ist, erinnert sich der Körper, sobald mensch diese Übung ausführt. Es stellt sich Ruhe ein. Mensch könne mit dem Finger am Ohrenrand vorbei fahren.Einen Notfallkoffer bei sich haben, ist gut. Sie hat in ihrem folgendes: ihren Lieblingsbonbon, Phantasiereise, Telefonnummern von Freundinnen, CDs, Buch, Gedichte. Ohropax und Augenbinde könnte mensch dabei haben. Abschließend der kluge Satz:

Glücklichsein ist eine Aneinanderreihung von glücklichen Momenten.“

Wir waren dann doch erleichtert, als der inhaltlich volle Tag vorbei war, wir spazieren und dann essen gehen konnten.

Der Donnerstag, 15. November 2012

Wieder geht die Tagung um10 Uhr los. Heute ist Anna Emmanouelidou, Dipl.-Psych. aus Griechenland, zu Besuch gekommen. Sie steht für das Hellenistische Observatorium für Menschenrechte in der Psychiatrie und spricht über: Von NULL wieder anfangen – immer wie das erste Mal: Überlegungen und Einladungen über das Soziale, das Politische und das (Zwischen-) Menschliche. Der Untertitel des Vortrags von Anna ist: „Radikalisierung der Krise als Zeichen menschlicher Pracht“.

Am Anfang steht eine zweifelhafte Feststellung: Wie toll soll mensch das denn finden, dass der Generalstreik in Griechenland (gegen die weitere Kürzung des Lohnes von 580 € um 50 €) gebrochen wurde?? Aber sonst wäre Anna heute nicht bei uns gewesen … und wie schade wäre das erst gewesen?? Wie soll mensch also nun zu diesen StreikbrecherInnen stehen?? Ich muss gestehen – ich bin dankbar.

Annas Vortrag beginnt mit einer Videopräsentation. Erst sehen wir einen Werbefilm mit den Schönheiten des Landes und des kulturellen Erbes. Einmal erscheint ein Spruch auf englisch: „Europa ohne Griechenland ist wie ein Kind ohne Geburtsschein.“ Dazu schrilles Klatschen bei der Olympiade 2004, nachdem die Sprecherin laut den Beginn der Olympiade verkündet mit den Worten: „Citizens of the world, welcome to Athens“ – „Bürger der Welt, Willkommen in Athen“. Gleich im Anschluss kommt ein Video von Athen 2012, mit Armen auf der Straße und blutigen Bildern einer Demonstration, dazu schöne klassische Musik.

Anna erzählt, dass Griechenland seit zwei Jahren eine tiefe Vernichtungserfahrung mache. Die Besonderheit sei, dass sie nicht von Feinden, sondern von Freunden ausgehe, und dass dies VERRAT sei. Die „Freunde“ sind Europa und die „Eigenen“ der Staat, die Regierung. Auf Verrat folge 1. Überraschung, 2. bitterer Schock, 3. der Gedanke: Das darf doch gar nicht wahr sein, 4. Schweigen und 5. Explosion. Eine Explosion sei vom Verlauf her

  1. eine unaushaltbare Kraft kommt zum Ausbruch,

  2. mensch hat keine Angst mehr, und versucht nichts zu retten und

  3. da ist Platz für Neues.

Das Wort Krise ist griechisch und bedeutet simpel „Auswertung“. Anna will uns einladen, sich von der Idee des Lebens als immer nur geradeaus zu verabschieden. In der griechischen Mythologie gibt es zwei Figuren, die es vormachen: Herakles und Phönix. Herakles war der Held, der alles möglich machte. Er wurde vom Hemd seiner Gattin eingeengt, das Gift im Hemd ging in sein Fleisch über. Er hat sich in ein von ihm angezündetes Feuer „gerettet“, indem er sich selbst verbrannte. Er starb nicht, sondern wurde unsterblich und in den Olymp der Götter aufgenommen. Weiterhin führte Anna den Vogel Phönix an, der ein Nest baute, sich hineinsetzte und verbrannte, um dann aus der Asche neu zu erstehen. Sie betont, dass das Feuer aus dem Vogel selbst herauskam. Genauso wäre es wichtig, (schwere) Krisen nicht als Katastrophe zu werten, sondern als extreme Aufforderungen zu Änderungen zu sehen.

Die Situation der psychiatrischen Versorgung in Griechenland ist folgende: Über 50 % der außerstationären psychiatrischen Versorgungsangebote ist in den letzten zwei Jahren geschlossen worden, die restlichen sind allmählich ausgeblutet. Die großen Krankenhäuser sollen die Versorgung wieder übernehmen, mit reduziertem Personal und fast ausschließlich mit starkem Medikamenteneinsatz. Das soziale System baut wieder solidarische Netzwerke auf, natürlich unbezahlt. Das ist die Übergangsantwort auf den globalen und sozialen Abstieg.

In Thessaloniki (1,5 Millionen Einwohner Stadt) gibt es bereits über 200 soziale Möglichkeiten, ohne Geld in der Tasche zu essen und um die zehn soziale Zentren, wo alles Notwendige getauscht wird. Mittags wird für die Neuarmen gekocht, das Essen kommt geschenkt von den Bauern umzu. Diese Form ist als Überbrückung gedacht, und es gehe erstaunlich gut. Anna selbst kommt aus einer Generation, die nicht weiß, was Krise bedeutet. Das hier ist wie Krieg. Die Zentren sind zum Teil illegale Besetzungen, in einem Fall ist die Kirche der Eigentümer. Die Kirche klagt zwar, aber die staatliche Gewalt wird im Moment für unwichtig gehalten.

Dann gab es noch ein abschließendes Video über „Greek revolution“. Eine Entschuldigung kam noch, dass sie ihren Vortrag angesichts der aktuellen Situation nicht weniger politisch habe gestalten können.

Das Publikum reagierte sehr geschockt. Eine Frau sagte, ihr werde gerade klar, dass sie vor einem Jahr gute Freunde in den Krieg entlassen habe, als diese nach Griechenland zurückgezogen seien. Doch Anna ist optimistisch. Die Menschen lebten nun sehr stark miteinander, die Regierung sei schon immer unglaubwürdig gewesen, da sei auch viel Erleichterung daran spürbar, dass man jetzt etwas dagegen mache.

Auf Nachfrage erläuterte sie das Hellenistische Observatorium näher. Seit über zehn Jahren gebe es die Initiative, anfangs aus drei Leuten bestehend. Sie sprachen am Anfang mit MitarbeiterInnen der Psychiatrie, um diese zu ändern. Diese Gespräche erwiesen sich jedoch als sinnlos. Der Versuch Betroffene als MitstreiterInnen zu finden, sei unfruchtbar gewesen. Sie haben dann – offiziell als Kultur- und Informationsverein – einen Raum in der Psychiatrie aufgemacht, kamen da oft „verkleidet“ rein. Zugleich fanden sie einen Angehörigen-Verein als Genossen. Es wurde Kaffee und Kuchen angeboten, dabei systematisch die PatientInnen über ihre Rechte informiert. Ab 2005 haben sie sich als Gruppe 1x monatlich getroffen und Punkte erarbeitet, was sie wollen. 2006 wurde das Hellenistische Observatorium gegründet. Es gab immer mehr Aktionen bis heute. Sie dienten als Anlaufstelle für Unterstützung bei Klagen. Solche von denen, die sich nicht trauten, wurden gesammelt und als Sammelklagen ans Ministerium weitergeleitet. Hilfe bei der Gründung von Selbsthilfegruppen wird gegeben. Beratung für Psychiatrie-Testament und Unterstützung beim Psychopharmaka-Absetzen wird angeboten. Eine Krisenpension zu öffnen, scheiterte bisher an den Finanzen. Ab Januar 2013 sollen Genesungsbegleiter ausgebildet werden, diese Ausbildung soll zwei Jahre dauern. Familien mit telefonischer Beratung zu begleiten, hat nämlich nicht ausgereicht. Es werden Veranstaltungen organisiert, es werden Bücher übersetzt. Das alles läuft ohne Geld, ohne jegliche Finanzierung und komplett in ihrer Freizeit.

Was Anna sich von uns wünscht: dass wir das Bild zur griechischen Situation in den Medien relativieren helfen und Alternativen schaffen. Der Kapitalismus werde auch hier her kommen. Griechenland habe keine Ressourcen mehr. Wir müssten Solidarität schaffen.

Menschen können durchaus schwere Krisen durchstehen, das ist bewiesen. Wenn dieser Gedanke in unserem Konzept vom Menschsein enthalten wäre, dass eine Krise nichts Schlimmes ist, wäre es hilfreich für viele. Die menschliche Kultur weiß das im Grunde. Im Christentum sei der Gedanke z.B. im Kreuz enthalten. Nur im modernen Denken wird die Krise als schlimm definiert und tabuisiert. Es gibt 1000de von Menschen, die schwere Krisen ohne Hilfe überstanden haben, nur es wird nicht darüber gesprochen. Mensch müsse Krisen einfach passieren lassen und fürsorglich begleiten, damit diese ihrem Ziel der Selbstgenesung dienen.

Aus dem Publikum kam noch der wertvolle Hinweis von einem Teilnehmer, dass ohne Krisen keine Entwicklung möglich sei und dass er keine seiner Krisen missen möchte.

Anschließend kam das, wovon ich für mich so viel erwartet hatte. Frau Prof. Dr. Michaela Amering aus Wien, die ich schon von der Tagung vor vier Jahren kannte, referierte zum Thema: Respekt! – wie die Achtung der Menschenrechte zur Gesundheit beitragen kann.2

Das Thema Respekt begleite sie schon lange. Hier wolle sie nur zwei von vielen Bedeutungen des Wortes Respekt anführen: a) Respekt, der einer in einer Hierarchie übergeordneten Person dargebracht wird, b) Respekt, der einer Person aufgrund ihrer persönlichen Merkmale entgegengebracht wird: gesehen, gehört werden auf Augenhöhe. Michaela kam gerade von einer Tagung in Mailand, wo es um die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) gegangen sei. Dort war mensch einhellig der Meinung, dass die UN-BRK an Einfluss gewinnen werde. Es fiel der in meinen Augen zweifelhafte, jedoch denkwürdige Satz: „Wie wäre es, wenn wir die Rechte der Behinderten einfach mal achten würden??“ So einfach, wie hier gewünscht, scheint das alles nicht zu sein.

Bereits 1986 sei in der „Ottawa Charta“ der „Weltgesundheitsorganisation“3 (WHO) festgelegt worden, dass Gesundheit gleich Selbstbestimmung sei und dass Gesundheitsförderung auf ein höheres Maß an Selbstbestimmung hinauslaufen müsse. Dies sei für alle Menschen weltweit festgeschrieben geworden. Diese Charta habe seitdem für jeden Menschen weltweit Gültigkeit, und sie solle unter allen Umständen gelten. In ihr sei auch die Bedeutung des Risikos enthalten. Alle Menschen dürfen etwas riskieren. Es sei ein Teil der Menschenwürde, dies zu dürfen. Denn nur aus Fehlern lerne man.

Die UN-BRK aus dem Jahr 2006 sei ein so besonderes Gesetz, wie es nur alle zehn Jahre einmal gemacht werde. Es haben inzwischen fast alle Länder der Welt unterschrieben. 2007 wurde das Gesetz in Deutschland ratifiziert, d.h. es wurde vom Parlament gebilligt und somit Gesetz in unserem Land. Jedes Land hat einen Monitoring-Ausschuss zur Beobachtung der Umsetzung. Dieser muss regelmäßig Berichte dazu bringen. Anschließend stellte Michaela anhand von „World Network of Users and Survivors of Psychiatry“ (WNUSP) dar, wie es weitergehen könnte:

WNUSP sei stolz über den Sieg gewesen, der in New York errungen wurde. Die Behindertenverbände seien alte erfahrene Kämpfer. Diese fanden es zu Beginn blöd, dass „die Verrückten“ jetzt dazu kommen sollten, aber diese wurden am Ende sehr geschätzt. Es wird inzwischen über „psychosocial disability“4 gesprochen anstatt „mental handicap“5. Dies scheint mir ein sehr viel passenderer Begriff für uns Menschen mit psychosozialen Gesundheitsproblemen zu sein. Von WNUSP sei auf deren Website Englisch ein Implementation Manual (Arbeitsanleitung) zur Umsetzung der UN-BRK dargestellt. Was muss getan werden? ist dort beschrieben, mit Beispielen bester Praxis und mit Alternativen zum Zwang in der Psychiatrie. Siehe www.wnusp.net

Rechtsanwälte hätten sich bisher eher nur mit Zwangsbehandlungen befasst. Mit der UN-BRK erweitere sich der Themenkomplex unglaublich, so dass sich Juristen zukünftig um viel mehr verschiedene Bereiche kümmern müssen. Wir müssen mehr mit Rechtsanwälten zusammenarbeiten in Zukunft. Ärzte seien keine Revolutionäre, sondern im Prinzip gesetzestreu. Fortschrittliche PsychiaterInnen seien ebenfalls stigmatisiert und würden häufig nicht gehört. „Könnte das Wort ´Ärzte´ nicht durch das Wort ´Rechtsanwälte´ ersetzt werden“, frage ich? Sind diese nicht überwiegend genauso gesetzestreu? Auch Rechtsanwälte müssen am Ende Geld verdienen …

Die UN-BRK ist im Original auf Englisch geschrieben. Die Übersetzungen in andere Sprachen werden so gemacht, dass die Rechte der Betroffenen verringert würden. Es gebe ermüdende Rechtsstreitigkeiten über einzelne, am Ende rechtsgeprüfte Worte. Die UN-BRK liegt auch in leichter Sprache vor. Und: ALLE Menschen hätten ein Recht auf „leichte“ Sprache. „Wie alle anderen Menschen auch“. Auch wir könnten z.B. beim Arzt auf dieses Recht pochen. Michaela schwärmte von der leichten Sprache: „Man liest etwas und kann gleichzeitig noch denken dabei. Es macht den Kopf auf.“ Sie habe an einer 3-stündigen Sitzung teilgenommen, bei der nach jeder halben Stunde der Inhalt für alle in leichter Sprache zusammengefasst worden sei – für alle eine enorme Erleichterung!

Viele psychosozial Betroffene wüssten nicht, dass die UN-BRK auch für sie Gültigkeit habe. Behinderten die Kinder wegzunehmen, sei nicht mehr gesetzeskonform. Nach dem Gesetz müssten die Familien die Unterstützung bekommen, die benötigt werde. Gut ausgebildete LehrerInnen werden gebraucht. Sonderschulen seien nicht mehr gesetzeskonform. Im englischen Sprachraum gebe es schon das Lehrfach Ethik. Die Gesetze müssen neu gemacht und dann auch eingehalten werden. Peer-Beteiligung sei ganz wichtig! Michaela hält die UN-BRK für eine neue Chance.

In der Diskussion meldete sich Clemens Böhm mit einer interessanten Idee: Er will eine „Stiftung Psychiatrie-Test“ gründen. Die Testperson müsste sich als Testzeit sechs Wochen am Stück in der Psychiatrie aufhalten. Es fehle bisher zudem für die Psychiatrie noch eine Arztfehler-Diskussion.

Nach diesem Referat waren nur noch drei Handvoll Menschen im Saal. Es trat die Clownin Nela Bajolo aus Köln auf. Nach dieser kleinen Performance kam abschließend Elke Voltz zu uns. „Lieder sind Nahrung für meine Seele“ war/ist ihre Message. Sie war extra aus Tübingen angereist. Als gebürtige Darmstädterin passte die ehemalige Friedenskämpferin gut ins Programm. „Ich tanze aus der Reihe – ins Freie.“ war einer ihrer schönsten Sätze. Siehe http://www.elkevoltz.de/

Heike Oldenburg

1Für uns Psychos ist der Ort nix aufgrund derer schlechten Erfahrungen mit unsereins. Was sie dann auf einer Tagung wie dieser verloren haben, wo sie unnötig Hoffnungen wecken, fragte ich mich im Nachhinein mit großem Ärger.

2 M. Amering ist Mitautorin des Buches „Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit“, das gerade in der 5. erweiterten Auflage erschienen ist.

3World Health Organization

4Psychosozialer Behinderung

5Psychischer Behinderung